Reichlich Tarantinovino

■ Psychoanalyse, leichtgemacht: Frederic Kleins "Tunnel oder Der Tag, als Mutter von mir ging" erzählt in schlichter Symbolik vom Unglück eines Modelleinzelkinds mit Modelleisenbahn

Der namenlose Erzähler hat sich zum Sterben ins feuchte Dunkel des Tunnels (Muschi, Orsch, Gebläzmutter) einer stillgelegten Bahnstrecke gelegt und übergibt uns seine Lebensbeichte: Er war ein armes Einzelkind. Die Mutter lieblos und streng, dafür etwas fett und leicht bärtig. Der Vater war Lehrer, gelegentlich um ein Lächeln bemüht – aber kein Aufkommen gegen die Mutter. Dafür die weltbekannte Lehrermüdigkeit. Und ein tägliches Wichsen nach Heimkunft mit Vorlage, was dem Einzelkind nicht entging, das es selbst, wenig später, zum Weltmeister in dieser Disziplin bringen wird. Wir sehen, wir befinden uns in einem Entwicklungsroman.

Das Einzelkind hat es schwer: Darf nur reden, wenn es gefragt wird, darf keine Freunde haben, muß immer lernen. Das Einzelkind ist brav und Klassenbester und obergehemmt. Aber plötzlich spannt es nachts einen Draht über die Treppe, und die Mutter zerschmettert sich den Kopf plus Hirn, als sie zur Arbeit will. Spannt, ohne einen Gedanken darob an uns zu verschwenden, teilt uns jenes Kopfzerschmettern plus Hirnverläppern mit dem emotionalen Aufwand und der Knappheit einer sechszeiligen Polizeimeldung mit. Aha, denkt der Leser, so ein Tarantinovino. Aber leider steht die Mutter kommentarlos am Abend wieder in der kalten Küche.

Das Einzelkind hat auch eine Freude. Die Eisenbahn. Die richtige und die kleine. Besonders liebt es die Dampfrösser. Von der Wohnung aus sieht es die stöhnend und spuckend im Tunnel verschwinden (Muschi, Orsch, Gebläzmutter). Als sein Einzelkindhaß wieder köchelt, klettert es nachts zum Tunnel und verbiegt die Schienen. Ein Massaker vor seinem Balkon. Doch gleich darauf wieder störungsfreier Verkehr. Wie, so fragen wir uns, ist so ein deppertes, braves Einzelkind solcher Taten fähig?, und da wir zu begreifen beginnen, daß es sich um „nur geträumt“ (Nena) handelt: wie ist es so gänzlich nüchterner, unphantastischer Phantasmen fähig?

Wir machen einen Sprung. Das Einzelkind hat eine universitäre Einzellaufbahn eingeschlagen, bleibt sehr vereinzelt, gehemmt und schüchtern, und selbst eine Kollegin mit Helfersyndrom kriegt ihn nicht aus der Hose. Aber er kann jetzt viele Tunnels für seine Modelleisenbahn kaufen. Nur bei leicht bärtigen Fettnutten in Mutterkleidung schafft er Halberektionen, eisenharte jedoch in Liegewagen vor Tunneleinfahrten (Muschi, Orsch, Gebläzmutter). Dafür mißhandelt er seine Mutter, die nach Fußbruch im Rollstuhl sitzt, und läßt sie einen Abhang hinunterzwitschern. Endlich ist sie hin. Oder eben nicht. Wie's verklemmten Einzelkindern so geht, schleppt es eine Studentin ab und zum Altar, die kurzzeitig seine Schrullen für Folgen der Einzelkindbrillanz hält. Als es aber zum Vollzug Gewichtszunahme, Bärtigkeit und Mutterkleidung verlangt, bekommt die Dame Bedenken. Sie wendet sich einem Fleischerburschen aus der Nachbarschaft zu.

Das Einzelkind wird jetzt Hitler, baut sich einen Obersalzberg und ordnet die Vernichtung unschuldiger Massen samt Mutterschändung an. Der Leser kriegt langsam eine Wut. Der Autor muß gemerkt haben, daß der Leser jetzt langsam eine Wut kriegt, und schreibt rein, daß, obwohl im Buch nichts darauf hindeutet, er es vielleicht doch persiflierend meint: „Im Grunde bin ich ein zartfühlender Mensch: die Familie, die Gesellschaft sind es, die mich verdorben haben.“ Das rettet den Schmarren kein bißchen. So billig ist literarische Vollkaskoversicherung nicht zu haben.

Das Einzelkind wird das Kind der Exfrau in Scheiben schneiden, ihr die Beine abfahren, die Brüste abschneiden und glühende Stangen in die Vagina treiben, bevor es sie in den stillgelegten Tunnel verbringt und verbrennt. Den Fleischerburschen wird er schlachten und dazubrennen. Es wird ein Häufchen Asche im Tunnel liegen, aber gleich darauf wieder nicht. Das Einzelkind wird sich dazulegen, die Kettensäge über sein Haupt hängen und sein Geständnis daneben. Merkwürdig: Die letzten Zeilen werden eine glückliche Kindheit imaginieren.

Egal. So langweilig, so durchsichtig undurchsichtig und ausgesucht papieren wurden soviel Sekret und Herzblut lange nicht vergossen. Das ist wirklich eine Kunst. Wilhelm Pauli

Frédéric Klein: „Tunnel oder Der Tag, als Mutter von mir ging“. Roman. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 1998, 226 S., 34 DM