Zur Typologie des zeitgenössischen Spießers IV Von Joachim Frisch

Er tummelt sich in den Geschäftszentren der großen Städte, er sitzt mittags im Steigenberger bei Tisch, mümmelt teuren Salat und hat dann nichts mehr fürs Trinkgeld übrig. Er tut so, als trüge er die Erdkugel durch das Universum, dabei trägt er nicht einmal seinen Anzug so, wie ein Anzug zu tragen ist. Er bewegt sich immer eine Spur zu hastig, sein Gesicht ist immer eine Spur zu verkniffen, er geht und guckt und tut immer so wichtig, als laste die Existenz Europas, zumindest aber der Abteilung Finanzcontrolling der Hamburg- Mannheimer-Versicherungen auf seinen Schultern. Es fehlt ihm das Maß an Gelassenheit, das beim Anzugträger den Unterschied zwischen Seriosität und Lächerlichkeit ausmacht.

Die Soziologie hat noch keinen treffenden Begriff für den anzugtragenden Twen der späten 90er Jahre gefunden. Er ist zeitgeisthistorisch zwar ein Nachfahre des Yuppies, doch der Yuppie zeigte wenigstens Charakter, wenn auch schlechten. Er hatte wenigstens den Mut, sich der Generation der Bedenken- und Gesundheitssandalenträger als Feindbild zur Verfügung zu stellen. Er hatte Kultur, auch wenn es die Dekadenz war, die er kultivierte. Das brachte ihm immerhin Feinde und damit ein wenig Ehre ein. Der anzugtragende Twen am Ende der 90er hat nicht einmal Feinde. Mit seinem feinen Zwirn ist er die Fleischwerdung des Faden.

Dabei ist grundsätzlich nichts gegen Männer im Anzug zu sagen. Nur: Es ist eine Frage des Stils, wem in welcher Zeit und in welchem Alter ein Anzug steht und damit zusteht und wem nicht. Es gab Zeiten, da gehörten Anzug und Mann zusammen wie Weißwein und Fisch. Cary Grant ohne Anzug wäre wie Ketchup ohne Tomaten gewesen, undenkbar. Das waren die 50er, als der Geschmack seine Ordnung hatte, wie auch noch in den 60ern: Selbst als die bösen Who plärrten, lieber sterben als 30 werden zu wollen, trugen sie Anzug und Schlips.

In den 70ern aber war der Anzug plötzlich mega-out, das Top- Spießersymbol, so daß schon wieder reichlich Mut dazugehörte, ihn zu tragen. Als dann Anfang der 80er einige diesen Mut aufbrachten, purzelten alle Maßstäbe durcheinander, Punks kamen im Anzug, Manager in Jeans und bunten Hemden, bis die Sehnsucht nach Ordnung schließlich den Anzug wieder salonfähig machte.

Heute darf wieder jeder Anzug tragen, auch wenn er erst 22 ist und Trainee bei der Hamburg-Mannheimer. Doch die 50er sind vorbei, Anzug und Jungspund passen nicht mehr zusammen, der Trainee wirkt im Anzug nicht weniger lächerlich als Ringo Starr auf alten Plattencovern. Gestandene und geschmackssichere Ästheten sollten hier Verantwortung übernehmen und junge Männer davor bewahren, sich vor aller Welt der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Zeit zwischen Konfirmation und, sagen wir, dem 30. Lebensjahr sollten sie bis auf weiteres kategorisch zur anzugfreien Lebensphase ausrufen. Sie sollten dem Trainee sagen, daß Jeans und Sweatshirt angemessen sind, weil er im Anzug aussieht wie Graf Gernegroß Junior beim Sonntagsausflug. Mit einer ästhetischen Reifeprüfung sollten sie junge Männer auf Stil und Ausstrahlung durchchecken, und nur derjenige sollte sie erhalten, der diese Reifeprüfung besteht: die Lizenz zum Anzugtragen.