Sand im Getriebe

Wer Täve wählt, geht nicht ins Kino. Doch wer PDS wählen will, sollte unbedingt ihren Zirkus besuchen — auch wenn's auf dem Parkplatz sehr nach SPD aussieht  ■ Von Thomas Brussig

Jeder anständige Deutsche sollte einmal in seinem Leben PDS wählen“, verkündete Gregor Gysi 1990, im deutschen Jahr. „Also machen Sie's gleich, dann haben Sie's hinter sich.“ Was für ein Statement! Die PDS ist für anständige Deutsche wählbar, ja vielleicht wird man gar durch PDS-Wählen zum anständigen Deutschen?

PDS wählen ist Bürgerpflicht, die man hinter sich bringen muß wie den Wehrdienst (der eigentlich abgeschafft werden soll)? Wollen wir das jetzt durchdeklinieren? Nee, lieber noch ein Bonmot aus Gysis „Kußmaul“ (Wolf Biermann), mit dem die ich-schwachen PDS-Sympathisanten ermuntert wurden: „Wählen Sie uns, sieht doch keiner.“

Damals kämpfte die PDS noch um jede Stimme. Heute will die PDS vor allem die Stimmen, die sie nicht sicher hat: die der Jungen, der Nicht-Wendeverlierer, der Selbständigen oder gar der Westdeutschen. Die vielen Arbeitslosen, die vielleicht auf Schröder hoffen. Die PDS-Stammwähler hingegen gereichen der Partei nicht zur Zier; es sind die frühverrenteten Wendeverlierer mit Hochschulabschluß, erkennbar am autoritär zerfurchten Gesicht und der gemeißelten Kante am Mundwinkel. Die es obendrein nicht verstehen, sich anzuziehen. Ein tödliches Image. Das Weltbild dieser Leute besteht aus Klassenkampf, Verschwörung des Kapitals und Verrat an der Arbeiterklasse, Begriffe wie Staat, Gesellschaft und Partei können sie aus Gewohnheit nicht auseinanderhalten, und mehr als die Hälfte von ihnen glaubt, daß ein Bekenntnis zum Grundgesetz einem Bekenntnis zu Helmut Kohl gleichkommt.

Die Herausforderung für die PDS besteht nun, vereinfachend gesagt, darin, mit antimodernen Wählern eine moderne Politik zu machen. Bis zu einem gewissen Grade geht das sogar, wie sich am PDS-Wahlkampf beobachten läßt: Für den Stammwähler gibt's den PDS-Wahlzirkus, einen echten Circus, bei dem Gysi auf dem Elefanten einreitet (ihm, Gysi, steht ein ehrlicher Angstschweiß auf der Stirn) und Wahlkampfleiter André Brie im Frack moderiert. Zwischen „dem einzigen Trampolinjongleur der Welt“ und Stuhläquilibristik wird über Politik geredet und gekalauert (zum Beispiel daß der Gregor schon ganz andere Elefantenrunden überstanden hat).

Als Zuschauer einer solchen Veranstaltung beginnt man zu ahnen, wieso die vagabundierenden Heimatgefühle nach dem Ende der DDR auch bei der PDS landen. Schon die Titelauswahl der Berieselungsmusik (sämtlich DDR- Schlager) stimmen auf eine Veranstaltung mit viel „wir“ und „uns“ und „damals“ ein. Gysi erklärt, wie durchtrieben es im fernen Bonn zugeht, und bereitet das Publikum sachte darauf vor, Kompetenz in bundespolitischen Fragen zu erlangen, nicht immer nur zu ostdeutschen Themen Stellung nehmen zu wollen. Der eigentliche Gegner im Wahlzirkus ist die SPD. Klar, die SPD ist nicht nur die Partei, die der PDS-Stammwähler wählt, würde er zu hoffen beginnen – auf dem Parkplatz sieht es sogar schon aus wie bei einer SPD-Veranstaltung.

Aber die PDS will ja nicht nur Milieu sein, wie sie von Richard Schröder so treffend charakterisiert wurde, sondern viel, viel lieber eine echte linke Kraft im Land, und um das zu sein, braucht sie die Jungen und die aus dem Westen. Wer Täve wählt, geht nicht ins Kino, also kann im Kino bedenkenlos ein Kinospot laufen, der erst mal so gar nicht nach PDS aussieht: Junge Frau (rote Lippen, rotes Shirt, Tarnhosen und No- name-Turnschuhe) läuft durch eine Welt in eiskalten Farben, in der auf Rolltreppen wenige nach oben und viele nach unten fahren; und schließlich wagt die rote Amazone den Sprung und greift nach dem Griff Power Control. Dazu singt Girlies kratzige Stimme zu computergenerierter Musik „Dies ist immer noch mein Land / hier hält keiner die Fresse“.

Von der Internet-Homepage der PDS läßt sich das Computerspiel „Captain Gysi und das Raumschiff Bonn“ downloaden. Sich in einer Sphäre zu präsentieren für eine Zielgruppe, die sich bevorzugt in dieser Sphäre tummelt, ist kein Problem. Schwierig wird's für die PDS, wenn sie sich dort präsentieren muß, wo sie von allen gesehen werden kann: auf den Plakaten, den Handzetteln, den Fernsehspots. Denn da wird der ganze Jammer offensichtlich: Die Plakate tun nur so, als seien sie frech, respektlos, geistreich, witzig. „Nazis raus aus den Köpfen — PDS“ verkündet ein Plakat, auf dem zwei Köpfe von Nazis zu sehen sind – einer hat sich das SS- Symbol einrasiert. Was, bitte, will uns dieses Plakat sagen? Daß die PDS weiß, wie Nazis aussehen und Köpfe? André Brie ist um seinen Job nicht zu beneiden: Die PDS- Stammwähler dürfen nicht mitkriegen, wie links die Partei ihrer Wahl ist – alle anderen dürfen nicht mitkriegen, wer PDS eigentlich wählt.

Ganz schwierig wäre es, wenn sich die PDS Hoffnungen auf irgendeine Regierungsverantwortung machen könnte – dann müßte sie sich ernsthafte Gedanken machen. Im Moment sehen die Ziele der PDS so aus: Mehr soziale Gerechtigkeit, weniger Arbeitslosigkeit, mehr Geld für nützliche Dinge ausgeben und weniger für Überflüssiges, weltweite atomare Abrüstung, Frauenquoten zwischen 0 und 100 Prozent (je nachdem), Steuerreform unter Beibehaltung des Spitzensteuersatzes, Einbeziehung der Selbständigen und Beamten in die gesetzliche Rentenversicherung, mehr Ausbildungsplätze und Übernahmegarantien nach der Berufsausbildung, Armut bekämpfen, Reichtum begrenzen, Umweltverbrauch senken... Alles Kokolores. Niemand wählt die PDS für ihre Ziele. Wer PDS wählt, wählt den Sand im Getriebe.

Wie wohl keine andere im Bundestag vertretene Partei macht sich die PDS Gedanken um spektakuläre Nominierungen. Ein echter Coup war 1994 die Nominierung von Stefan Heym. Diesmal ist es Täve Schur. Der im Westen weithin unbekannte Radsportweltmeister aus den fünfziger Jahren war bis 1989 das DDR-Sportidol, populärer als Katarina Witt und Jürgen Sparwasser. Täve steht noch immer für den einfachen, herzlichen Ossi, der Großartiges leistet, aber bescheiden bleibt – das Gegenteil zum Feindbild Wessi, der eine Flasche ist, aber sooone Wellen macht. Täve hätte nie Doping genommen, Steuern hinterzogen oder Rivalen von der Piste geschubst. Man kann nichts gegen einen Täve Schur haben. Nur kann ich mir den Ex-Volkskammerabgeordneten Schur noch weniger im Bundestag vorstellen als Stefan Heym. Was will so ein anständiger Mensch wie Täve im Bonner Sündenpfuhl?

Gern würde die PDS auch Siegmund Jähn aufstellen, den braven DDR-Fliegerkosmonauten und „ersten Deutschen im All“. Oder Henry Maske, den NVA-Offizier, auch „einer von uns“, weil er in seiner Selbstdarstellung so bemüht und unbeholfen wirkt. Weil die nicht zu kriegen sind, stellen sie Petra Pau auf – ein Name, wie geschaffen für Marschgesänge.

Ist die PDS eine linkskonservative Partei mit liberalen Verflüchtigungstendenzen? Indem die PDS ihre Feste gern in zwei Sälen feiert (einer für die Jungen, einer für die Alten) scheint sie sich ins Unabänderliche zu fügen. Im für die PDS ungünstigeren Fall ist sie ein bigotter Haufen, der auf lange Sicht von seinen zwei Sälen lahmgelegt wird. Im günstigeren Fall ist sie ein bunter Haufen, mit Flügeln, die sich so fremd sind, daß sie sich nicht mal ernsthaft zerstreiten können. Die PDS ist alles mögliche – aber nicht etabliert. Trotzdem würde sie sich ohne Gregor Gysi zu Tode langweilen. Gregor Gysi findet nicht nur immer einen überraschenden Grund, die PDS zu wählen – er kann auch wie kein zweiter lebender deutscher Politiker in Bonmots und Pointen reden und von hintenrum durch die Brust ins Auge schießen: Daß die SPD vor nichts mehr Angst hat als davor, daß die PDS die in der letzten Legislaturperiode abgelehnten SPD- Anträge wortgleich im neuen Bundestag zur Wiedervorlage bringt. Daß Hilsberg und Thierse am meisten den Wiedereinzug der PDS in den Bundestag wünschen müßten. Daß jeder anständige Deutsche einmal im Leben PDS wählen muß. (Daß es die IM-Vorwürfe gegen ihn erst gibt, seit die anderen Parteien, die ihn schon gern bei sich hätten, begriffen haben, daß er bei der PDS bleibt – das hat Gysi so noch nicht erklärt. Warum eigentlich nicht?)

Wollen Sie PDS wählen? Wissen Sie, mit wem Sie sich da gemein machen? Dann gehen Sie mal in den Wahlzirkus. Am besten gleich, dann haben Sie's hinter sich.