: Das Privileg Leid
■ Israelische Geschichte etwas anders: „Anthologie“ vom Theaterzentrum Acco
Es ist ein ganz intimer Kreis, den Selma Grünwald da um ihr Piano inszeniert hat, und die Dame, der unzweifelhaft ein Hauch von Grandezza anhängt, gibt sich alle erdenkliche Mühe, die Gäste ihres Salons gepflegt zu unterhalten. Cognac wird ausgeschenkt, Konfekt wird gereicht. Die Hauptattraktion aber spart sie für später. Es ist der gemeinsame Auftritt mit ihrem Sohn, auf den beide sich schon sehr, sehr lange vorbereitet haben. „Wir zeigen Ihnen unser bestes Stück“, verspricht Frau Grünwald lächelnd, während sie ihren debilen Sohn wie einen Tanzbären mit Gekreische aufpeitscht. Da nimmt der 41jährige, dem die Gasmaske vorm Gesicht baumelt, einen kleinen Bechnapf und legt los: „Ich war sieben Jahre im KZ, Wasser! Mutter, Wasser!“ Frau Grünwald, die ab und zu das Stichwort „Gas“ souffliert hat, ist zufrieden.
Ihr kleines Schauspiel geben Frau Grünwald und ihr eher unwilliger Sohn so etwa, grob geschätzt, seit 50 Jahren. Autorisiert hat sie die Geschichte: „Fünf Kriege, vier Transporte, drei Aktionen, zwei Selektionen und ein Gott.“ Begleitet und am Leben erhalten hat sie die Musik, und deshalb muß sie auch unaufhörlich klimpern. Gleichzeitig dient das Piano als Beweisstück, das alles, angefangen von Gospels über „Im Frühtau zu Berge“, „Die Moldau“ und argentinischen Tango bis zum Horst-Wessel-Lied als ursprünglich hebräisch ausweist. Dies auszuführen gibt der Holocaust-Überlebenden nicht nur Gelegenheit, mit ihrem Spiel zu brillieren, sondern auch über das genetisch bedingte Stinken der freundlichen Neger zu plaudern, die darin den Türken in Deutschland oder Russen in Israel ja in nichts nachstünden.
The Anthology, gespielt von Smadar Yaaron und Moni Yosef, ist ein gut einstündiger Ausschnitt der sechsstündigen Inszenierung Arbeit macht frei, mit dem das Acco Theatre 1993 zu Gast beim Sommertheater war. Die Israelis der dritten Generation wollten den Holocaust als „nationale Religion“ entlarven – die ständige Berufung auf den eigenen Opferstatus bei gleichzeitig unreflektiertem Rassismus. Auch The Anthology ist ein offensiver Umgang mit israelischer Geschichte, die eben nicht allein Leidens-, sondern auch Aggressorgeschichte ist, doch sind die Zusammenhänge im Salon begrenzter und die direkte Irritation des Publikums schwächer. Frau Grünwald ist eine jüdische Aristokratin, der alles angeborenes Privileg ist – selbst das Leiden. Die Provokation, die das Stück vor fünf Jahren bedeutete, als die Compagnie nach einer gemeinsamen Busfahrt ins KZ Neuengamme zum freimütigen Erzählen von Judenwitzen aufforderte, kann der isolierte Ausschnitt nicht wiederholen.
Christiane Kühl
bis 5. September (außer Mo)
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