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Die Schwabinger Boheme damals

Wo heute eine der besseren spanischen Kneipen Schwabings steht, beendete Thomas Mann 1901 seine Buddenbrooks. Kandinsky und Klee, Rilke und Mühsam – eine literarische Führung durch Schwabing  ■ Von Thomas Pampuch

Es war einer der kältesten Tage des Jahres 93, als ich mit einem kleinen Trüpplein Gleichgesinnter hinter einem relativ kahlköpfigen Mann mit Schiebermütze 5 Stunden lang durch mein heimatliches Schwabing zog. Vom Wedekindplatz – wo 1963 die berühmten „Schwabinger Krawalle“ angefangen hatten, die mir als frühes Aufflackern der später in größerem Stil betriebenen Unbotmäßigkeiten der Münchner Studentenbewegung in Erinnerung sind – schleppte uns der Mann kreuz und quer durch die Straßen des Viertels: Vom Englischen Garten mit dem zugefrorenen Kleinhesseloher See zur Leopoldstraße. Dann um die Ecke in die Ainmillerstraße – wo wir zwischen 68 und 71 mit der „Roten Zelle Geschichte“ im Historischen Institut gewirkt hatten, in dessen Räumen nun die Zeitschrift „Männer Vogue“ untergebracht war, in der sich der spätere Chefredakteuer der taz, Arno Widmann, gerade erholsam auf sein großes Amt vorbereitete. Danach zur Kaiserstraße, wo sich bis heute die einzige echte Berliner Kneipe Münchens, „Heppel & Ettlich“, befindet. Und von dort schließlich in die Maxvorstadt zur Universität und zur Akademie am Siegestor.

Es war, wie gesagt, ein saukalter Tag, aber der Mann mit der Mütze plauderte so anregend und wußte so viel, daß uns warm ums Herz wurde, zumal ja einige von uns mit diesen Straßen und Häusern durchaus eigene Geschichte und Geschichten verbanden. Doch Dirk Heißerer, so hieß unser literarischer Spaziergänger, hatte nicht die heroischen Zeiten der Münchner 68er im Visier. Ihm ging es um eine Zeit, die noch viel weiter zurück lag. „Wo die Geister wandern“ nannte (und nennt) Heißerer seine Führung. „Eine Topographie der Schwabinger Boheme um 1900“ wollte er uns bieten, und bei Gott, das tat er.

Dirk Heißerer, ein geborener Rheinländer, ist ein Phänomen. Es gibt wohl keinen Menschen, der sich in Schwabings Adressen der letzten 100 Jahre so gut auskennt wie er. Der promovierte Germanist macht seine Spaziergänge inzwischen bereits seit 10 Jahren – kürzlich hat er das Jubiläum mit einem literarischen Picknick im Englischen Garten gefeiert. Heißerer ist aber nicht nur ein Adressensammler. Seine Führungen – inzwischen auch in Buchform erschienen – beschwören die Geister der alten Boheme von Frank Wedekind bis Erich Mühsam so trefflich, daß man nicht mal Schwabinger sein muß, um dabei freudigst angeregt in eine versunkene Welt einzutauchen. Der Witz dabei ist, daß der „Genius loci“ dem „Flaneur“ entscheidend hilft: Die Koppelung von Zeit- und Ortsebene macht, daß die Geister der Verblichenen in der Tat zu wandern beginnen. Gerade so, wie es Guillaume Apollinaire in seinem 1902 in München verfaßten Gedicht „La maison des morts“ beschreibt, in dem die Toten aus dem Leichenschauhaus des alten Nördlichen Friedhofs in Schwabing auferstehen und zum Englischen Garten promenieren, um dort schließlich ausgelassen zu feiern.

Von Heißerer geführt, trifft man auf eine erstaunliche Zahl dieser Geister, die von 1885 bis in die 20er Jahre hinein aus Schwabing jenes „Wahnmoching“ machten, das mit der Räterepublik halb und mit der Nazizeit ganz zerschlagen wurde. Ringelnatz und Oskar Maria Graf, Kandinsky und Gabriele Münter, Gustav Meyerink und Gräfin Reventlow, die Brüder Heinrich und Thomas Mann, Mühsam, Toller, Landauer, sie alle lebten, arbeiteten hier, radelten, zogen von einer Zimmerwirtin zur anderen, sangen vielleicht zur Laute, schrieben Stücke, Romane und Gedichte, erfanden neue Malstile, trafen sich im Café Stephanie oder bei Kathi Kobus in der Künstlerkneipe Simplicissimus, pumpten, soffen, liebten, feierten, stritten. Und einige beteiligten sich gar an jener Revolution, die Bayern zum Ruhm und zur Schande gleichermaßen gereicht.

Heißerers Führungen sind historisch-literarische „Betrachtungen“, „Anschauungen“ im besten Sinne. Mit tausend Informationen, Zitaten und Verweisen führt uns der Flaneur durch die Zeitschichten hindurch, läßt er uns vergangene Milieus erleben, würzt er uns einen häßlichen Neubau so lange mit Anekdoten und Legenden vergangener Tage, bis die Luft am Orte anfängt, historisch zu flirren. Da, wo heute eine der besseren spanischen Kneipen Schwabings steht, beendete Thomas Mann 1901 im dritten Stock seine Buddenbrooks. Dort, in der Kaiserstraße, schrieb Lenin im selben Jahr „Was tun?“ – er konnte schließlich noch nicht zu Heppel & Ettlich schräg gegenüber gehen. Drüben in der Ainmillerstraße lebten einige Zeit lang Kandinsky und Klee Haus an Haus, später zog Rilke daneben ein, und auch Franz Marc wohnte kurzzeitig nicht weit. Um die Ecke in der Römerstraße residierte im vierten Stock Stefan George in seinem „Kugelzimmer“. Zwei Stockwerke tiefer lebte Karl Wolfskehl, eine jener genialen Schwabinger Gestalten, die Schwabing vor dem ersten Weltkrieg mit Bildung und Festen versorgten. Und im Schlößchen Suresnes beim Englischen Garten wurde im Juni 1919 Ernst Toller aus seinem Versteck geholt und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Im selben Haus hatte übrigens Paul Klee sein Atelier, doch laut Polizeibericht „fanden sich (dort) verdächtige Sachen nicht vor“.

Das Schöne und Wichtige an Schwabing war freilich immer, daß sich eben doch verdächtige Sachen vorfanden, ob sie nun Blauer Reiter, Rote Revolution oder Weiße Rose hießen. Ob es eine Schwabinger Boheme heute noch gibt, mögen irgendwann die Heißerers des 21. Jahrhunderts entscheiden. Für den Moment bescheiden wir uns damit, der alten zu gedenken. Damit wir das nicht vergessen, hat Heißerer in diesem Jahr das Projekt „Ortsbeschreibung“ durchgeführt. Zusammen mit dem Maler Joachim Jung hat er 70 „zum Vergehen gemachte Gehsteigbeschriftungen“ in Schwabing angefertigt, mit denen auf Wohnorte der Geister hingewiesen wird, um leichter auf deren Spuren wandern zu können. Einen Ersatz für eine literarische Führung mit Dirk Heißerer allerdings wollen und können die Beschriftungen allerdings nicht bieten.

Die Termine der literarischen Spaziergänge – neben Schwabing u.a. auch in Neuhausen, im Lehel und am Starnberger See – sind bei Dirk Heißerer, Tel. (089) 134142, Fax 134191, zu erfahren.

Heißeres Bücher „Wo die Geister wandern“ (1993) sowie „Wellen, Wind und Dorfbanditen – Literarische Erkundungen am Starnberger See“ (1995) sind im Diederichs Verlag erschienen, die Broschüre „Ortsbeschreibung. Tafeln und Texte in Schwabing“ in der Anderland-Verlagsgesellschaft.

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