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Romantik im Durchmarsch

„Do you think we can reach Munich by six o'clock? Die touristischen Highlights von Deutschland und Österreich in nur fünf Tagen. Da bleibt der Fisch auf dem Teller auch manchmal unberührt. Japanische Touristen haben viel vor sich und nur eins im Nacken – die Zeit  ■ Von Karl Hübner

Katsuhiro Takeda blickt auf die Uhr. „Karl, do you think we can go to the Loreley?“ Es ist zwölf. Um Viertel vor drei müssen wir in Heidelberg sein. „Ja, das könnte reichen.“ Sofort springt Takeda auf und signalisiert der Reisegruppe, daß in zehn Minuten Aufbruch ist. Die 29 Japaner und Japanerinnen lassen sofort ihre Eislöffel fallen. Hektik. Zwischen den Türpfosten des Café Rheingold in St. Goarshausen steht ohnehin schon die nächste Reisegruppe. Takeda ist bereits auf dem Weg zum Bus. Fisch und Spargel läßt er weitgehend unangetastet.

„Fährst auch Japaner?“ raunt mich auf dem Parkplatz ein Busfahrerkollege an. „Kennst du schon die Tricks?“ Er zwinkert. „Welche Tricks?“ „Na du weißt schon.“ Er reibt Mittel- und Zeigefinger am Daumen. Ich schüttele den Kopf. In doppelter Hinsicht. Für manche Fahrer scheint Trinkgeld die Hauptmotivation zu sein.

Eine halbe Stunde später liegt die Loreley schon hinter uns. Noch neunzig Minuten bis Heidelberg. Erst einen Tag vorher waren die Japaner in Frankfurt gelandet zu ihrem Projekt „Deutschland und Österreich in fünf Tagen“.

Der Jetlag scheint wie weggeblasen, als wir in die Stadt am Neckar rollen. Die Kameras im Anschlag, mischen sich die Japaner unters Volk. Ihnen bleiben knappe zwei Stunden. Ein Highlight: Shopping bei Unicorn oder Heidelberg Royal, jenen Geschäften, die sich voll auf Nußknacker, Kuckucksuhren und Bierkrüge und damit auf das japanische Publikum spezialisiert haben. Hier finden die Asiaten sogar Landsleute als Verkäufer vor.

Dann zum Schloß – die Kameras klicken in rekordverdächtigem Tempo. Danach ein schweigsames Abendessen, ausgerechnet beim verhaßten Koreaner. Und um acht ins Hotel, wo Gäste aus Nippon im Jahresmittel jedes dritte Heidelberger Bett belegen. Die Statistik sagt allerdings auch, daß Deutschland bei den Japanern an Boden verliert. „Italien und Frankreich sind in“, weiß Takeda. Er lädt mich noch zum Bier in die Hotelbar ein. Wir besprechen den morgigen Tag. „Karl, do yo think we could leave one hour earlier?“ Eine Stunde mehr für Rothenburg, das wäre gut. Klar, kein Problem. Takeda wird als einziger noch lange wach bleiben. Er muß sich auf die Burgenstraße und Rothenburg vorbereiten.

Was er in der Nacht gelesen hat, läßt er am nächsten Morgen über das Bordmikrofon alle wissen. Und während der Neckar dann in der Sonne glitzert, schiebt Takeda „Classic Guitar Moods“ in den Recorder. Abbas „Fernando“ in einer ganz neuen Version. Takeda blickt zur Uhr und lehnt sich zurück. Wir liegen gut in der Zeit. So gut, daß beim Mittagessen in der Tauberstadt beinahe entspannte Atmosphäre aufkommt. Die Teilnehmer dürfen sogar ein zweites Getränk bestellen.

Worüber mögen sie sprechen? Über Rothenburg, noch über Heidelberg, die Loreley oder gar Rüdesheim? Das ist 24 Stunden her, aber doch schon eine Ewigkeit vorbei. Längst hat Takeda sie mit der unmittelbaren Zukunft vertraut gemacht, mit der „Romantik kaidou“, der „Romantischen Straße“, und natürlich mit Dinkelsbühl, seinem persönlichen Lieblingsort.

Wahrscheinlich weil die Romantik nicht durchgehend spürbar ist, weisen alle paar Kilometer braune Schilder in deutscher und japanischer Schrift darauf hin, daß man sich eben auf der „Romantischen Straße“ befindet.

In Dinkelsbühl verlieren wir wertvolle Zeit. Es droht fast schon knapp zu werden mit dem abendlichen Termin im Hofbräuhaus. „Karl, do you think, we can reach Munich by six o'clock?“ Takeda ist besorgt. „Nein.“ Ich gebe Gas. Takedas Blicke zur Uhr häufen sich.

Ob die Japaner ihren Urlaub bisher genießen? Sie sehen viel, zweifellos, aber jeder Schritt ist genau festgelegt. Takeda hat alle Hände voll zu tun, damit die Inszenierung perfekt ist. Die Fahrt nach München unterlegt er mit bayerischer Volksmusik. Ob die in den Ohren seiner Landsleute auf Wohlwollen stößt, bleibt freilich ungewiß. Japaner beschweren sich nicht.

Das Sauerkraut im Hofbräuhaus ist dann freilich nicht jedermanns Sache. Der Stimmung tut das keinen Abbruch. Doch ehe es zwischen Jodeln und dem „Prosit der Gemütlichkeit“ so richtig gemütlich wird, ist auch schon wieder Zapfenstreich. Auch im Hofbräuhaus geben sich die Reisegruppen Klinke und Krüge in die Hand.

Am nächsten Morgen klingelt der Wecker um Viertel vor sechs. Wir wollen zu den Königsschlössern. „Karl, do yo think we can make it by nine-thirty?“ Es klappt. Kaum hat sich das weiße Neuschwanstein zum ersten Mal auch nur andeutungsweise in unser Blickfeld geschoben, höre ich die Kameraverschlüsse auch schon klicken.

Doch was ist mit Takeda los? Er ist irgendwie geknickt. Er hat letzte Nacht auf dem Weg vom Hofbräuhaus ins Hotel irgendwo seinen Pullover verloren. „The sweater was from my wife“, weiht er mich in die Tragweite des Verlustes ein. Während die Gruppe mit dem Pendelbus hoch zum Schloß fährt, bleibe ich am Busparkplatz. Takeda muß einen schlimmen Vormittag verleben. „Karl, I am finished“, haucht er bei seiner Rückkehr, sich tief einatmend auf einen Zaunpfeiler stützend.

Beim Mittagessen verliert er die Kontrolle. Zeitnot stellt sich ein. Es dauert ewig, bis alle auf der Toilette waren. „Karl, do yo think I can take a nap in the bus?“ Klar, ich habe nichts gegen ein Nickerchen von Takeda. Doch dann kommt er selber wieder von diesem Wunsch ab. „No, this won't be good.“ Er nickt auf die Gruppe. Er glaubt, daß ein müder Reisebegleiter nicht gut ankäme. Er ist jetzt wieder sehr japanisch. Ich mag ihn. Irgendwie sind wir Verbündete im Kampf gegen die Zeitnot, die der Veranstalter ihm auferlegt. Trotz seiner Gewissenhaftigkeit hat er genügend Selbstironie, um seinen aufopferungsvollen Job auch belächeln zu können. Irgendwie bewundere ich ihn auch.

Über eine halbe Stunde zu spät machen wir uns Richtung Salzburg auf den Weg. Takeda zückt die Mozart-Kassette. An der Grenze, kurz nach der Kleinen Nachtmusik, ist er dann wieder voll auf der Höhe. Souverän organisiert er die Umtauschaktion der 29 Japaner. Dann im Hotel rotiert er, um die Aufteilung der Zimmerschlüssel zu beschleunigen. Eigentlich müßten wir schon im Wienerwald sein. Und in zwei Stunden beginnt das Konzert auf der Festung. Streß kommt auf.

Obwohl Takeda wieder häufiger in die Hände klatscht und der heiße Apfelkuchen zum Nachtisch auf den Tellern zurückbleibt, erreichen sie das Konzert nicht rechtzeitig. Doch sie haben Glück. Takeda hinterher, noch immer ergriffen: „They waited for us.“ Sicher ein schönes Erlebnis für die japanischen Gäste.

Überhaupt ist die Atmosphäre jetzt sehr angenehm. In stiller Harmonie flanieren wir durch Salzburgs Altstadt zum Bus. Fast halb elf. So spät war es noch nie. Und Takeda muß sich in dieser Nacht zum ersten Mal nicht mehr auf den kommenden Tag vorbereiten. Für die morgige Führung durch Salzburg kommt eine japanische Führerin ins Hotel. Um neun Uhr erst. Beinahe ausschlafen also.

Mit Mozartkugeln im Gepäck brechen wir schließlich zur letzten Etappe nach Wien auf. Zwei Fotostops in Fuschl am See und am Wolfgangsee stehen als letzte Sightseeing-Punkte auf dem Programm. Am Wolfgangsee, nur einen Steinwurf entfernt von des Kanzlers Feriendomizil, wird die Stimmung familiär. In allen denkbaren Konstellationen muß jetzt auch der Busfahrer Karl mit auf die Fotos. Wir können uns nicht verständigen, aber vier gemeinsame Tage im Bus haben uns auf sehr subtile Art nähergebracht.

Endlich die Autobahn nach Wien. Takeda lehnt sich zurück. Er muß nun endgültig nicht mehr zur Uhr schauen. Morgen wird er mit der Gruppe nach Tokio zurückfliegen. Sie werden dann am Donnerstag landen.

Und wann wird es wieder losgehen? „On Friday is my next trip.“ Und der wird ihn für sechzehn Tage nach Europa führen, unglaublich lange für japanische Verhältnisse. Takeda erzählt mir, daß er im letzten Jahr nur fünfzig freie Tage hatte, inklusive Wochenenden. Allein an über zweihundertvierzig Tagen war er im Ausland. Wo er am liebsten ist? Klar, er mag Dinkelsbühl. Aber am wichtigsten sei ihm, daß die Teilnehmer zufrieden sind. Es sei eigentlich egal, wo das ist.

Ein letztes Mal läßt sich Takeda aus der Ruhe bringen. Ich frage ihn, wie man meinen Namen japanisch schreibt. Eine hart Nuß. Das „rl“ von Karl macht ihm fast fünfzig Kilometer lang zu schaffen. Doch dann hat er eine Lösung gefunden. Er lehnt sich zurück und schließt die Augen. Ein ruhiger Zug spielt zum ersten Mal um seinen Mund.

Wir erreichen Wien. Mein Japanisch beschränkt sich weiterhin auf „Ohajo gozaimas“ (guten Morgen) und „Alegato“ (danke). Ich verstehe nicht, was der alte Mann in dem weißen Blouson sagt, als er nach vorne kommt, zwei Minuten etwas in das Mikrofon spricht, um mir dann unter allgemeinem Klatschen einen Umschlag zu reichen. Takeda hält mir das Mikro unter die Nase. „Alegato.“

Welche Erinnerungen werden diese Menschen zurück nach Nippon nehmen? Dinkelsbühl, Sauerkraut, Neuschwanstein oder Mozart? Vieles werden sie vielleicht zum ersten Mal in Ruhe ansehen können, wenn sie die Fotos vor sich haben. Ob sie dann noch wissen, was wo war?

Nach dem Kofferausladen kommt Takeda noch einmal zu mir. Von wie vielen Busfahrern wird er sich schon verabschiedet haben? Und doch, sein Abschied ist mehr mehr als ein warmer Händedruck. Irgendwie werfe ich noch einen Blick auf den Umschlag. Dem Kollegen in St. Goarshausen könnte ich freilich immer noch nicht sagen, worin die Tricks bestehen.

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