: Ein Gipfel angeschlagener Präsidenten
■ Vor dem amerikanisch-russischen Gipfeltreffen: Der designierte Premierminister Viktor Tschernomyrdin muß sich seine Wahl durch das Parlament in Moskau teuer erkaufen. Mit seiner Ernennung wird die politische Macht von Präsident Boris Jelzin kräftig beschnitten
„Geschlossen bis auf bessere Zeiten“ – das verkündet ein Schild vor den heruntergelassenen Jalousien eines Getränkekiosks am Rande der Moskauer Innenstadt. Wenn die Präsidenten der USA und Rußlands, Bill Clinton und Boris Jelzin, heute in Moskau zu ihrem siebten Gipfeltreffen zusammenkommen, wird die russische Wirtschaftskrise mit Sicherheit den Mittelpunkt der Beratungen bilden.
Die Bemühungen zur Beilegung der Krise sind offenkundig einen Schritt vorangekommen. Wie ein Fernsehsender berichtete, einigte sich gestern eine Kommission aus Vertretern des Kreml, der Regierung und der beiden Parlamentskammern auf ein Dokument, das die Ernennung von Viktor Tschernomyrdin zum Ministerpräsidenten durch das Parlament ermöglicht. Der Preis dafür: Innerhalb eines Monats soll eine Kommission zur Änderung der Verfassung gebildet werden. Jelzins Macht soll beschnitten werden. Darüber hinaus fordert die Kommission die Verstaatlichung von Unternehmen, die Subventionierung von Kolchosen und eine Entdollarisierung der Wirtschaft. Importe sollen künftig zum Schutz einheimischer Produzenten blockiert werden. Die Zustimmung des designierten Ministerpräsidenten Tschernomyrdin zu diesen Maßnahmen bildet für die kommunistische Duma-Mehrheit die Voraussetzung für seine Wahl. So manche und mancher stellt sich bei alledem die Frage: Wo bin ich eigentlich?. Und denkt sich: in der alten Sowjetunion.
Die MoskauerInnen hatten sich an das gute Leben schnell gewöhnt. Erst kürzlich entdeckte Rußlands Durchschnittsbürger das elementare Menschenrecht auf eine Wohnungseinrichtung nach eigenem Geschmack. Die Baumärkte boomten. Die Geschäftsgebäude in der Innenstadt prangten in Pastellfarben, das Verkaufspesonal wurde freundlich. Wie Atlantis droht dieses ganze bunte Feenreich nun unterzugehen.
Mit Viktor Tschernomyrdin kehrt ein Mann an die Macht zurück, der an der akuten Finanzkrise Rußlands mitschuldig ist. Was in der Sowjetzeit begonnen hatte, wurde in der sechsjährigen Amtszeit des führenden Managers des Erdgasmonopolisten Gasprom zur Regel. Firmen rechneten untereinander in Naturalien oder mit gegenseitigen Schuldverschreibungen anstatt mit Geld ab. Kriminelle Organisationen plünderten nicht mehr – wie eh und je – nur den Konsumgüterhandel des Landes, sondern nun auch seine Rohmaterialien, Erde, Kohle und Buntmetalle. Ein oligarchischer Vetternkapitalismus machte sich breit. Der russische Ökonom Grigori Jawlinski definierte dies folgendermaßen: „Dies ist ein System, in dem man Geld nur über die Macht bekommen kann und die Macht nur durch Geld.“ Mit einer Mischung von mangelnder ökonomischer Bildung und Hilflosigkeit sah der immer wieder schwer kranke Präsident der Entwicklung zu. Die vom Westen geleisteten immensen Kredite hatten ihm zuerst die Finanzierung des ruinösen Tschetschenien-Krieges ermöglicht, dann seinen Präsidentschaftswahlkampf 1996.
Mangelndes Wissen und mangelndes Engagement
Trotzdem wollte Jelzin als gerechter Zar in die Historie eingehen, unter dessen Herrschaft alle Bergarbeiter und Lehrer ihre Gehälter bekamen und alle Pensionäre ihre Renten. Er war nur an den Resultaten interessiert, nicht aber an den Methoden, mit denen die von ihm eingesetzten „jungen Reformer“ gemeinsam mit Tschernomyrdin die Staatskasse füllten. Im Sommer letzten Jahres nahm er triumphierend den Rechenschaftsbericht der Vizepremiers Anatoli Tschubais und Boris Nemzows an, die im Laufe von nur drei Monaten das schier Unmögliche vollbracht hatten – die jahrelang aufgehäuften Staatsschulden gegenüber den Pensionären abzuzahlen. Das Geld dafür kam aus den seit Anfang 1997 ausgegebenen kurzfristigen Staatsobligationen.
Schon damals war aber absehbar, daß die Einnahmen aus weiteren Obligationen die durch die älteren Papiere entstandenen Schulden bei weitem nicht mehr decken könnten.
Anfang 1998 wuchs die Binnenschuld des russischen Staates weiter, während Premier Tschernomyrdin triumphierend von einem erstmaligen Wachstum des Bruttosozialproduktes berichten konnte. Als Jelzin, für die Öffentlichkeit überraschend, Tschernomyrdin im März in die Wüste schickte, war der Zusammenbruch der staatlichen Finanzpyramide schon absehbar – und die Zeit für eine Abwertung des Rubels herangreift.
Während Boris Jelzin im März mit dem Regierungswechsel von Tschernomyrdin zu Kirijenko noch seine eigene Machtposition verteidigt hatte, läßt sich der Rücktausch Kirijenkos gegen Tschernomyrdin nur noch mit Jelzins Wunsch erklären, seine physischen Kräfte zu schonen. Seine Tochter Tatjana Djatschenko und der Leiter seiner Administration, Valentin Jumaschew, überredeten den russischen Präsidenten zu diesem Schritt, weil ihnen Viktor Tschernomyrdin immer noch als der beste Garant der eigenen Clan-Interessen erscheint. Ihr Ratgeber war dabei der einstige Mega-Autohändler und derzeitige GUS-Sekretär Boris Beresowski.
Angesichts des erneuten Regierungschaos geriet der Rubel erst recht ins Schleudern. Der präsidiale Pressesekretär Sergej Jastrzembski antichambrierte bei Kommunistenführer Gennadij Sjuganow und bat um finanzielle und juristische Garantien für den Jelzin- Clan im Falle einer Abdankung seines Chefs. Die Gerüchte, daß dieser Schritt unmittelbar bevorstehe, verdichteten sich Ende August.
Die Wahlen zur Duma sollen verschoben werden
Mit seiner spektakulären Fernsehrede am Freitag hat Jelzin dem Volk nun versprochen, keinesfalls vor dem Jahre 2000 freiwillig abzutreten: „Angesichts meines Charakters ist dies, glaube ich, unmöglich.“ Damit ist für den in seiner Autorität angeschlagenen Präsidenten aber noch immer nicht die Gefahr gebannt, nach den stabilen Preisen und dem üppigen Warenangebot im Lande nun auch die dritte große Errungenschaft seiner Amtszeit zu verlieren: die russische Verfassung. Diesem Dokument ist es in den letzten Jahren zu verdanken gewesen, daß die politischen Auseinandersetzungen in Rußland weitgehend im Parlament und nicht auf der Straße ausgetragen wurden.
Nun verhandelt die Dumamehrheit mit Viktor Tschernomyrdin darüber, die Vollmachten des Präsidenten zu beschneiden und ihm das letzte Wort bei der Regierungsbildung zu nehmen. Außerdem streben die Ewiggestrigen im Parlament eine Verschiebung der für 1999 anstehenden Duma-Wahlen an. Im Resultat könnte so am Ende ganz leise ein Putsch siegen, wie ihn Jelzin und die BürgerInnen 1991 und 1993 laut abgewehrt haben. Barbara Kerneck, Moskau
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