: Alles bloß eine Frage der Haltung
Im Zeitalter nach den großen Geschichten: Die Berliner Festwochen stehen unter dem Motto „Next Generation“ und zeigen Inszenierungen aus England, Schottland, Irland und den USA. Das junge britische Theater hat etwas, was deutschen Autoren fehlt: Sex-Appeal ■ Von Jens Hillje
„Und ich glaube, vor langer Zeit gab es große Geschichten. Geschichten, die so groß waren, daß man sein ganzes Leben darin verbringen konnte. Die allmächtigen Hände der Götter. Der Weg der Aufklärung. Der unaufhaltsame Marsch des Sozialismus. Aber sie sind alle gestorben oder erwachsen geworden oder vergreist. Also erfinden wir jetzt alle unsere eigenen Geschichten. Kleine Geschichten. Jeder von uns hat eine. (...) Das macht einsam.“
Diese Zeilen stammen aus dem Stück „Shoppen & Ficken“ von Mark Ravenhill, der Geschichte einer Wohngemeinschaft, die zwischen Drogen und Geldproblemen ihr Leben nicht geregelt kriegt. Die WG wird mit dem zehn Jahre jüngeren Stricher Gary konfrontiert, der kompromißlos ist in seiner Suche nach Liebe und Geborgenheit und sie schließlich im Moment des Sterbens findet. Über die literarischen Qualitäten dieser Geschichte von Mark Ravenhill läßt sich streiten, doch es steht außer Frage, daß dieses Stück den Nerv der Zeit getroffen hat. In seinem einfachen und klar formulierten Antikapitalismus mag es manchen bürgerlichen Kritikern zu naiv sein, aber es ist ein Zeitstück im besten Sinne – und im Fernsehen nicht sendefähig, wie das ZDF im Rahmen des Theatertreffens feststellte. Das Theater braucht neben poetischen und sprachmächtigen Texten immer auch solche Stücke, die nahe am Leben und an der Zeit dran sind, für ein großstädtisches Volkstheater, gerade in Berlin.
Aus den englischsprachigen Ländern kommt eine Dramatik von jüngeren Autoren, die solche Stücke schreiben können. Sie beziehen ihren Schreibanlaß aus persönlichen Anliegen, die mit den Problemen der Gesellschaft übereinstimmen, und ihre Sprache und ihre kleinen Geschichten aus der Beobachtung der Realität, die sie umgibt. Hier formuliert sich ein neuer Realismus, der keine Frage der Form ist, im Sinne einer Unterscheidung von naturalistischen oder stilisierten Darstellungsweisen, sondern eine Frage der Haltung, mit der man der Welt gegenübertritt. Dieser Realismus entsteht aus der Wut auf die bestehenden Verhältnisse, und er findet seine Form in Versuchen, die Welt zu beschreiben, wie sie ist – und nicht nur, wie sie aussieht.
Sarah Kane hat in ihrem letzten Stück „Crave“ (Verlangen) eine sprachmusikalische Partitur für vier Stimmen geschrieben. Im formalen Experiment folgt sie hier Versuchen älterer Kollegen wie Martin Crimp und Caryl Churchill. Ein jüngerer und ein älterer Mann, eine jüngere und eine ältere Frau, zwischen ihnen entsteht ein schmerzhaftes, neurotisches Spannungsfeld von obsessivem Liebesverlangen, eine unendliche Geschichte der Enttäuschungen in einer knappen lyrischen Sprache. Das Schlachtfeld der Liebe war schon das Thema ihres ersten Stückes „Blasted“ (Zerbombt). Meist als brutaler Schocker verkannt, beginnt die verzweifelte Liebesgeschichte von Ian und Cate recht naturalistisch in einem Hotelzimmer, um dann apokalyptisch in den Abgrund des hereinbrechenden Krieges zu stürzen. Doch es geht nicht um die vordergründige physische Grausamkeit von Menschen. Es geht um die Möglichkeit von Liebe überhaupt.
Dieses Schreiben wird seine Relevanz behalten, jenseits unmittelbarer Zeitgenossenschaft. Wie auch die Besessenheit und Subtilität, mit der der Schotte David Harrower die Unfähigkeit von Menschen beschreibt, sich in der Sprache zu begegnen. In „Kill the Old, Torture their Young“, wie „Crave“ letzten Monat in Edinburgh am Traverse Theatre uraufgeführt, treffen Paare, Passanten und andere Stadtgestalten aufeinander, um sich sprechend immer haarscharf zu verfehlen, ohne es zu merken, ein ewiges Vorspiel ohne Aussicht auf Erlösung. Neben dem Erfinden guter Titel, wie „I Licked a Slag's Deodorant“ und zuletzt „Arse“, ist Jim Cartwright einzigartig im liebevollen Skizzieren skurriler Figuren aus den Hinterhöfen vergessener Vorstädte.
Meister im Erzählen von kleinen Geschichten in geschliffenen Dialogen sind auch die Amerikaner. Hier präsentiert sich eine Generation politischer Theaterautoren um die Vierzig, die in der Zeit der Reaganomics unter republikanischer Herrschaft zu schreiben begannen. Richard Dresser hat mit „Below the Belt“ ein absurdes Drama aus der mörderischen Welt der kleinen, aufstiegswilligen Angestellten geschrieben. In szenischen Lesungen werden an der Baracke in Berlin drei noch unbekannte Autoren dieser Generation vorgestellt: Paula Vogel mit einer Lolitageschichte, ein Zweipersonenstück mit drei Chören; Keith Reddin mit einem lakonischen Großstadtreigen, in dem keiner seiner gerechten Strafe zugeführt wird; und August Baker mit einer wilden Genremischung aus Splatter, Psychothriller, Talkshow und Teeniedrama für vier Schauspieler und einen Drummer.
Doch während die Veränderung der Gesellschaft durch die Veränderung des Verhaltens eines Individuums immer noch die Grundlage für politische Stücke aus den USA ist, sind Theaterstücke aus Großbritannien nach 18 Jahren Thatcherismus oft nur noch Beschreibungen von Verhältnissen, die der einzelne allein nicht ändern kann. Aber sie sind ohne jedes Opferlamento und behaupten immer die Würde der dargestellten Figuren. Darin liegt ihre Sprengkraft.
Neben den Iren, die schon längst ihre eigene Nationalliteratur geschaffen haben, versuchen auch die Waliser und die Schotten eine eigene Dramatik für ihre Länder zu begründen. Aus Wales kommt Ed Thomas mit seinem Theater Fiction Factory, für das er „Gas Station Angel“ geschrieben hat. In diesem Stück gelingt ihm die Verbindung von zwei sehr verschiedenen Welten. Die Geschichte einer Liebe in der Provinz zwischen Pub und Ecstasy, die sich immer die Frage stellt, bleiben oder gehen, in die große Stadt nach England, verwebt sich mit der Welt der Älteren, Geschichten von Feen, Flüchen, bösen Engeln und unerbittlichem Bruderhaß. Am Beginn des Stückes steht das Elternhaus von Ace noch zur Hälfte auf dem Land, hoch auf den Klippen. Am Ende stürzt es ins Wasser. Auch der Vater, der immer hinausfuhr, um mit dem Meer zu sprechen, und versuchte, es umzustimmen, weiß keinen Ausweg mehr, als in den Sozialbau der Regierung zu ziehen.
Im Konflikt mit der dominanten englischen Kultur befinden sich auch andere Gruppen. Im Slang der karibischen Einwohner von Hackney/London geschrieben ist „Yard Gal“ von Rebecca Prichard. Es ist die Geschichte zweier Freundinnen, deren Clique auseinanderbricht und sie unerbittlich in die Welt der Erwachsenen hinausspeit, wo jede für sich allein wird kämpfen müssen. In der Welt der Schwulen ist „The One You Love“ von Tim Luscombe angesiedelt, kein Stück, daß irgendwie um Verständnis oder ähnliches wirbt. Es ist eine Welt von de Sadescher Morallosigkeit. Auf der Suche nach Liebe oder irgendeinem Moment authentischen Lebens zerstören sich Luscombes Männer ohne Perspektive auf ein Leben über den Moment hinaus, um sich noch einmal selbst zu fühlen.
Neben diesen Stücken in szenischen Lesungen werden im September in Berlin neben den schon genannten Autoren Patrick Marber, Jez Butterworth, Enda Walsh, Hillary Fannin, Abi Morgan, Stephen Greenhorn, Terrence McNally, Patrick Barlow und Connor McPherson mit Stücken auf die Bühne kommen. Spricht man von Theater aus England, Schottland, Wales und Irland, sieht man von einigen LiveArt-Gruppen ab, redet man von Autoren – selbst Tim Etchells von Forced Entertainment läßt seine Texte mittlerweile verlegen.
Die Mutter dieser Renaissance zeitgenössischer Dramatik in Großbritannien ist wohl das Royal Court Theatre in London, das unter der Leitung von Stephen Daldry mit Graham Whybrow als Literary Manager eine neue und junge Generation von Dramatikern auf die Bühne brachte. Das Spiel ging auf, dank einer leidenschaftlichen Suche nach jüngeren Talenten und der kontinuierlichen Betreuung und Entwicklung der bei den Autoren in Auftrag gegebenen Stücke. Und die Theaterdichter sind die hochgeschätzten Stars ihrer Theater. Sarah Kane und Mark Ravenhill sind die in Deutschland wohl bekanntesten Autoren, die an diesem Theater ihre ersten Uraufführungen erlebten. Längst sind auch andere Theater wie Kopfgeldjäger hinter jungen Dramatikern her.
Eine Wertschätzung, die jüngeren Theaterautoren in Deutschland eher selten zuteil wird, weder von Publikum und Kritik noch von den Theatern, für die das Risiko und viel Arbeit bedeutet. Aber auch hier steht eine neue Generation bereit und wird sich früher oder später Einlaß verschaffen. Und dann werden auch wieder mehr Theaterautoren da zu finden sein, wo sie hingehören: in den Theatern. Und vielleicht haben sie dann auch etwas von dem, was den Erfolg der jüngeren Autoren und ihres Schreibens in Großbritannien ausmacht: Sex-Appeal.
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