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„... sie liegt weit im Osten“

Mythos produziert Mythos: Alle hundert Jahre taucht die versunkene Stadt Vineta vor Usedom wieder auf. Diesmal als Hüpfkissen, ökonomische Wundererzählung oder wärmende Metapher. Eine Reportage mit karthographischen und literarischen Wegweisern  ■ Von Kolja Mensing

Es war einmal eine sehr reiche Stadt. Die Stadt hieß Vineta, und mit dem Wohlstand wurden die Bewohner hochmütig und verschwenderisch.“ So beginnt ein Märchen. Und weil in Märchen Hochmut und Verschwendung bestraft werden, geht es so weiter: „In einer stürmischen Novembernacht brach eine gewaltige Sturmflut los. Vineta versank im Meer, und seitdem hört man an Ostersonntagen die Glocken der Stadt dumpf aus dem Wasser hervorklingen.“ Vineta soll auf der Insel Usedom gelegen haben, bei Koserow. Und alle hundert Jahre, so das Märchen, taucht die unglückliche Stadt aus dem Meer auf, um vielleicht von einem Sonntagskind erlöst zu werden. Bisher allerdings hat das nicht geklappt.

In diesen Tagen, Ende August, regnet es auf Usedom. Vom Strand von Koserow aus ist keine Stadt zu erkennen. Nur Wasser. Doch das Meer gurgelt und rauscht, braust und säuselt, und es erzählt mit kräftigem Wellenschlag eine Geschichte. Eine alte Geschichte: Bereits in den Wikinger-Sagas tauchte Vineta auf, und die Chronisten des Mittelalters wußten Details über eine Stadt an der Ostsee zu berichten. Seit dem zwölften Jahrhundert heißt es dann, Vineta sei zerstört und im Meer verschwunden. Damit wurde es interessant, und Vineta ist bis heute ein tolles Rätsel geblieben. Gerade erst haben Berliner Archäologen versucht zu belegen, daß Vineta weder vor der Usedomer Küste liegt noch – das war bisher die andere Theorie – mit der polnischen Stadt Wolin identisch ist. Sondern weiter westlich bei Barth an der Küste vor Rügen zu suchen ist.

„Ich sag' mal“, sagt Frau Jeschek, die Kurdirektorin von Koserow, „für uns wird Vineta immer vor Usedom bleiben.“ Frau Jescheks Büro ist in einer postmodernen Leuchtboje untergebracht, an der ziemlich traurigen, postsozialistischen Hauptstraße des kleinen Urlaubsortes. Die Kurdirektorin erzählt von den Sehnsüchten der Menschen, die sich in der Sagenwelt wiederfinden. Und davon, daß in den polnischen Badeorten alles einfacher sei. Zum Beispiel dürfe man dort am Strand Hüpfkissen für die Touristenkinder aufstellen, wofür man ja hier keine Genehmigung bekomme. Dafür hat Kurdirektorin Jeschek ein Tonband mit den Glocken von Vineta, und das spielt sie am Ostersonntag an der neuen Seebrücke von Koserow ab: „Es weiß natürlich jeder, daß das ein Trick ist.“ Aber ein schöner Trick, denn Vineta, so Kurdirektorin Jeschek, ist etwas zum Träumen. Auf ihrem kleinen Schreibtisch liegt heute ein ganzer Stapel Vineta-Bücher: Traum-Bücher. Die schaurige Sage hat seit dem neunzehnten Jahrhundert Schriftsteller und andere Künstler inspiriert. Allein sechs Vineta-Opern wurden komponiert.

Der Romantiker Wilhelm Müller, seinerzeit als „Griechen-Müller“ bekannt, tauchte in später von Johannes Brahms vertonten Versen den Trümmern des Ostsee-Atlantis hinterher. In seinem Gedicht „Seegespenst“ hat Heinrich Heine zwischen diesen Trümmern sogar Kaiser-Standbilder gefunden. Und Selma Lagerlöf ließ ihren Nils Holgersson am Strand vor Vineta zwischenlanden.

Doch dann wurde erst einmal ernsthaft gegraben: Die Archäologen eroberten sich zu Beginn dieses Jahrhunderts ihre Erzählung von den Literaten zurück, buddelten vor Wolin im Schlick, und die Usedom-Theorie verlor an Glaubwürdigkeit. Irgendwie schien die ganze Sache nicht mehr ganz so spannend zu sein. Und weil außerdem die Küste vor Pommern Manövergebiet der NVA und damit märchenfreie Zone war, wurde es ruhiger um den Usedomer Vineta- Mythos. Weihnachten 1984 erschien Vineta dann auf dem Gabentisch der Familie Grass: „Ein Geschenk, das ich für meine Liebste, die mich mit der Ratte beschenkte, in Seidenpapier gerollt hatte: auf handkolorierter Landkarte liegt, der pommerschen Küste vorgelagert, Vineta, die versunkene Stadt. Trotz Stockflecken und seitlichem Riß: ein schöner Stich.“ So beginnt Günter Grass' Roman „Die Rättin“ – ein neobarockes Untergangsepos, in dem der Dichter Grass mit den Figuren aus seinen anderen Werken auf den Atomtod wartet. Vineta sollte bei Grass die Stadt der Frauen werden, der letzte Hort des Matriarchats. Doch Mitte der 80er ist es zu spät fürs Mutterrecht. Vineta gehört bereits den Ratten: der Mythos vom Untergang, noch einmal erzählt in Zeiten, als der Untergang real schien.

Während Grass vom Weltuntergang schwadronierte, zählte man damals auf Usedom pro Saison etwa 8,2 Millionen Übernachtungen. Die DDR machte Urlaub. Sonnen, Essen, Schlafen: Auf Usedom ging es zu wie auf Mallorca, nur daß der sozialistische Massentourismus nicht von TUI und Co, sondern von der Gewerkschaft organisiert wurde. Heute dagegen muß man sich etwas einfallen lassen auf Usedom, damit es den Urlaubern dort auch wirklich gut gefällt: Hüpfkissen, zum Beispiel, oder ein sogenanntes Event. Also Vineta. Die pommersche Landesbühne hat bereits im letzten Jahr die „Vineta-Festspiele“ ausgerichtet, die zur festen Einrichtung werden sollen. Überall auf der Insel flattern die blauen Fahnen mit dem Logo: eine gefräßige Welle macht sich über eine kleine, schnuckelige Stadt her. Und weil man auf Usedom in den immer noch rauhen Nachwendezeiten nicht untergehen will, wird Vineta für einige auf der Insel zur ökonomischen Wundererzählung – aus dem Mythos von der versunkenen Stadt steigt ein neuer Mythos hervor. Herr Spranger, der Vereinsvorsitzende des „Förderkreises Vineta“, erklärt, wie Vineta zur Marketing-Idee werden soll. Nicht nur die blauen Fahnen sollen lustig auf der ganzen Insel flattern, jeder muß mitmachen. Die Bäcker verkaufen bereits Schokoladentaler mit dem „Welle verschluckt Stadt“-Bildchen, bald werden sich Pikkoloflaschen mit Vineta-Sekt in die Kehlen durstiger Touristen leeren und Lokale Vineta-Essen anbieten. „Nur leider“, sagt der Vereinsvorsitzende und schüttelt unzufrieden den Kopf, „sind noch nicht alle im Bereich Einzelhandel und Gastronomie überzeugt.“

Der Vereinsvorsitzende Spranger ist ein Ostdeutscher, der glaubt, den anderen Ostdeutschen erklären zu müssen, wie es so richtig losgehen könnte. Mit Event- Marketing, zum Beispiel. Die Inszenierung der „Vineta-Festspiele“, die man sich auf der Ostseebühne Zinnowitz angucken kann, erzählt allerdings eine ganz andere Geschichte. Herr Bordel, Intendant der pommerschen Landesbühne, hat einen zauseligen Bart, eine beeindruckend abgewetzte Lederjacke und ein wehmütiges Lächeln – und sieht damit genau so aus, wie man sich einen ostdeutschen 68er immer schon vorgestellt hatte. Er findet Events gar nicht gut. In seinem Stück geht es dann auch darum, daß Geld alleine nicht glücklich macht, sondern man auch nett zueinander sein muß: „Es wird uns natürlich vorgehalten, daß sei alles viel zu moralisch. Aber darauf bin ich stolz.“ Intendant Bordel erklärt, wie es aussieht in der Region, in der er Theater macht: keine Arbeit, nur im Bereich Tourismus, und wer da von den Einheimischen mitmischen will, hat sich zum Teil heftig verschuldet. Und wenn, wie in diesem Jahr, die Sonne nicht so oft scheint, haben „viele schon mal dieses dumme Vineta-Gefühl im Nacken: nämlich unterzugehen.“ Also gibt es auf der Zinnowitzer Ostseebühne ein anderes Vineta- Gefühl, mit viel Musik und einer Lasershow untermalt – und noch einen neuen Mythos: Seid nett zueinander, habt euch lieb, let the sun shine in your heart. Dann wird alles gut. Auch in Ostdeutschland.

Der Lyriker Uwe Kolbe, der früher in der DDR gelebt hat und darum wohl ein sogenannter ostdeutscher Schriftsteller ist, hat gerade einen neuen Gedichtband mit dem Titel „Vineta“ veröffentlicht. In einem Gedicht, das genauso heißt, zieht Kolbe eine Bilanz der stummen DDR- und wohl auch Wendejahre: „Meine Straße schweigt unter den Stiefeln des Schweigens. / Meine Stadt unter dem Tosen erneuten Aufbaus. /Wie heißt sie?“ fragt Kolbe und dichtet sich die Antwort: „Die Stadt heißt Vineta, sie liegt weit im Osten Europas, die / Glocken läuten zur gewohnten Zeit, doch in dem Schweigen / kommt das Geläut nicht weit.“ Vineta als Metapher für das Ende der DDR: noch ein Mythos. Den Menschen auf Usedom muß man damit allerdings nicht kommen. Der Vereinsvorsitzende Spranger findet, daß Vineta aus vollkommen anderen Gründen untergegangen ist als die DDR, kennt aber eine Baufirma, die „Vineta GmbH“ heißt. Kurdirektorin Jeschek lugt auf diese Frage so irritiert über ihren Bücherstapel hinweg, als habe man ihr ein unmoralisches Angebot gemacht. Und Intendant Bordel lächelt weiterhin wehmütig.

Damit ist die Suche nach Vineta zu Ende. Erst einmal. Auf Usedom regnet es, irgendwo läuten Glocken. Man setzt sich in ein Auto und registriert gerade noch an der Straße, die aus Zinnowitz herausführt, ein Plakat des „Vineta-Festspiel-Teams“. Auf dem steht: „Wir wollen Sonne!!!“ Mit drei Ausrufungszeichen. In hundert Jahren wird man einfach noch mal wiederkommen.

Unterwasser- und Vineta-Literatur:

Günter Grass: „Die Rättin“.

dtv, München 1998, 496 Seiten, 19,80 DM

Uwe Kolbe: „Vineta. Gedichte“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998, 72 Seiten, 28 DM

Tilman Spreckelsen: „Versunkene Städte. Geschichten, Märchen, Legenden“. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 263 Seiten, 15,90 DM

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