: Jubeln für unseren Helden Helmut Kohl
Helmut Kohl hat Leipzig viel zu verdanken. Der Aufstand ihrer Bürger beschleunigte den Untergang der DDR. Bei seinem Wahlkampfauftritt in der einstigen „Heldenstadt“ zeigte sich Kohl als geschickter Dramaturg ■ Aus Leipzig Nick Reimer
Der Held und die Heldenstadt – dieses Stück wurde am Dienstag abend in Leipzig gegeben. In der Hauptrolle: Helmut Kohl. Mit von der Partie: Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf und – dreigeteilt – die „Helden von Leipzig“. Während den Helden direkt vor der Bühne die Rolle der Klatscher zufiel, gaben die Helden „hinten“ die Buhrufer. Dazwischen agierte der Chor der Massen. Großflächig war Leipzigs Markt von Absperrgittern eingesäumt. Neben Taschenkontrollen – der Protagonist des Stückes soll an anderen Orten ja schon böse Überraschungen erlebt haben – gab's an den Eingängen Programmzettel. Gleich nach der Ouvertüre – die Blaskapelle lieferte zackige Marschrhythmen ab – folgte der erste Akt: Das Bad in der Masse. Biedenkopf – klein von Statur – wurde kaum beachtet, alle Hände reckten sich nach Kohl. Die Männer mit Lederjacke und Knopf im Ohr hatten alle Hände voll zu tun, um der Menschen Wunsch und des Kanzlers Glücksmoment sicherheitstechnisch in die Reihe zu bekommen. Zumal Kohl ausgiebig badete – eine viertel Stunde lang.
Der zweite Akt trug die Überschrift: „Aller guten Dinge sind drei“. Kurt Biedenkopf deklarierte, daß der Kanzler ausgesprochen gern in die Stadt der Revolution kommt. „Zum dritten Mal ist Helmut heute hier in Leipzig, und jedesmal haben wir die Wahl gewonnen.“ Biedenkopf meinte die Besuche kurz vor der letzten DDR-Volkskammerwahl, im Oktober 1994 und eben jenen Vielakter am Dienstag. „Überzeugt“, zeigte sich Sachsens Ministerpräsident, daß „das Gesetz der Serie hält, weil aller guten Dinge drei sind.“ Möglicherweise ist die Überzeugung nicht allzu groß: Kohl hatte 1997 den Leipziger Hauptbahnhof eingeweiht, war also mindestens schon zum vierten Mal in der Messestadt. Optimismus verbreitete Biedenkopf jedenfalls, als er „die 15.000 Menschen, die gekommen sind“, begrüßte. Es dürften nicht einmal halb so viele gewesen sein. Dann aber wurden die „Helmut, Helmut“-Rufer – überwiegend im Chor der Klatscher zu finden – erlöst: Akt Nummer drei war ganz dem Haupthelden vorbehalten – wie alle anderen Akte auch, die folgen sollten. Kohl gab sich ganz staatsmännisch, begann zunächst im Fach Tragödie. Er lies die Weltkriege und Wirtschaftskrisen vor den Augen der Zuschauer Revue passieren, erinnerte „an das schreckliche Leid der braunen und roten Diktatur in Deutschland“ und kam schließlich zu seinem ersten Leipzig-Besuch im Jahr 1975. Hannelore, die ja aus Leipzig stammt „und mir herzliche Grüße aufgetragen hat“, habe ihm damals die Stadt, die so schrecklich unter Krieg und Kommunismus gelitten hatte, erklärt. „Und wenn ich mich heute hier umschaue, meine lieben Freunde“, sagte Kohl, „dann haben wir doch die blühenden Landschaften.“ Das rief allerdings nur im Chor der Klatscher Begeisterung hervor, die bis dahin ihre Rolle nach jedem Satzende mit Bravour bewältigten, später allerdings – im Gegensatz zu den Buhrufern – gänzlich untergingen.
Akt vier führte die Zuschauer – die Regie hatte glänzend gearbeitet – nach Rußland, wo sich, so Kohl, gerade in diesen Tagen zeigen werde, ob sich freiheitliche Marktwirtschaft oder kommunistische Diktatur durchsetzen. „Und das hat natürlich Auswirkungen auf alle ehemaligen Ostblockstaaten. Keine rot-grünen oder sozialistische Experimente!“, zitierte Kohl Kohl.
Auch im Fach Komik glänzte der Kanzler. „Wenn die Buhrufer da hinten erst mal richtig arbeiten und Steuern zahlen, werden sie schon auch noch CDU-Wähler, wie jeder ordentliche Mensch.“ Dem Akt Steuerpolitik folgte der Akt Renten, folgte der Akt Familie, folgte der Akt Europa – Kohl ließ nichts aus. Und er ließ nicht nach. Auch als er nach anderthalb Stunden zum großen Finale blies – „wenn sie mir richtig zugehört haben, werden sie auch richtig wählen“ –, war dem Hauptdarsteller weder Müdigkeit noch Anspannung anzumerken. Nein, selbst wenn seine Phonetik immer wieder bemängelt wird, die Helden- Rolle spielte Kohl in der Heldenstadt perfekt. Er lebte sie förmlich. Zum Höhepunkt der Vorstellung geriet Kohl das Versprechen, 100 Mio. Mark für die Rekonstruktion des Leipziger Zentralstadions – der größten Sportarena Deutschlands – bereitzustellen, „und zwar unabhängig, ob wir gewinnen oder nicht“. Auf so ein Geschenk hatten die Leipziger gewartet. Jetzt gab auch der Chor der Massen seine Zurückhaltung auf und klatschte und jubelte. Das Geld soll ab dem Jahr 2000 zur Verfügung stehen. Leipzig soll zur Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 „großartige Spiele erleben“. Dann hatte der Kanzler fertig.
Leipzigs CDU-Chef Wolfgang Nowak dankte Kohl für dessen Vorstellung, überreichte einen Wurstkorb des Metzgermeisters Götz aus Stötteritz und einen Nußknacker – der wie Kohl aussah und „noch viele von diesen SPD-Nüssen knacken wird“. Aber da hatte sich die Mehrheit des Chors der Massen schon auf den Heimweg gemacht.
So war der Auftritt Kohls in der Stadt – deren Impuls am 9. Oktober 1989 überhaupt erst seinen Titel „Kanzler der Einheit“ ermöglichte – ein Wahlkampfauftritt wie jeder anderer. Die Helden von Leipzig sind auch nur Helden wie wir.
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