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Der Gipfel der Versprecher

■ Bei ihrem Treffen versichern sich Clinton und Jelzin, ihr waffenfähiges Plutonium zu verringern. Auf Fragen nach dem künftigen Ministerpräsidenten reagiert Jelzin mit einem Blackout: „Es wird noch ziemlich viel geschehen“

Moskau (dpa/rtr/taz) – Orientierungslosigkeit kommt vor dem Fall: Bei der Abschlußpressekonferenz mit US-Staatschef Bill Clinton glänzte Rußlands Präsident Boris Jelzin gestern durch zeitweilige geistige Abwesenheit. Auf die Frage, ob er sich einen anderen Kandidaten als Wiktor Tschernomyrdin für das Amt des Ministerpräsidenten vorstellen könne, antwortete Jelzin stockend: „Ich muß sagen, daß bei uns ziemlich viel geschehen wird, damit wir diese Ergebnisse erreichen.“ Dann suchte er Augenkontakt mit seinem Sprecher Sergej Jastrschembski und setzte hinzu: „Das ist alles.“ Amtskollege Clinton schloß sich an: Als er gefragt wurde, ob er in seiner Fernsehansprache zu seiner Affäre mit der Expraktikantin Monica Lewinsky den richtigen Ton getroffen habe, grinste Clinton und sagte: „Das wäre auch meine Antwort.“

Zumindest etwas deutlicher hatte sich Jelzin zu Beginn des Auftritts beider Präsidenten vor der Presse ausgedrückt. So warf der Noch-Staatschef Rußlands den USA vor, in der internationalen Politik auf Gewalt zurückzugreifen. Rußland hingegen lehne Gewaltanwendungen prinzipiell ab. „Es kann keine militärische Lösung der heutigen Konflikte geben, sei es im Kosovo, im Irak oder in Afghanistan“, sagte Boris Jelzin. Die Idee eines „Nato- Zentrismus“ sei im Rahmen einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa unannehmbar.

Um zumindest ein konkretes Ergebnis des Gipfels vorzuweisen, hatten beide Staatschefs zuvor ein Abkommen über den Datenaustausch der Raketenabwehrsysteme unterzeichnet. Im einzelnen geht es um Daten, die von den Radarsystemen und Satelliten der USA und Rußlands über den Start von ballistischen, taktischen und strategischen Waffen weltweit gesammelt werden. Außerdem wollen Moskau und Washington ihre Plutoniumreserven um je 50 Tonnen verringern.

Auch der innenpolitischen Krise trug der US-Präsident Rechnung. Am gestrigen Nachmittag wollte sich Clinton mit Jelzins Widersachern und möglichen Anwärtern auf den Präsidentenposten aus dem Parlament und den Regionen treffen. Der Chef der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, der Jelzin 1996 in der Stichwahl um das Präsidentenamt unterlegen war und immer noch davon träumt, „im Kreml die rote Fahne zu hissen“, hatte für Clinton schon das passende Statement vorbereitet. „Ich werde dem US-Präsidenten sagen, was sich tatsächlich in Rußland abspielt“, kündigte er an. Dabei sprach er sich gegen einen „neuen Eisernen Vorhang“ in Europa und für unterschiedliche Eigentumsformen in der Wirtschaft aus – wohl um Clinton nicht allzusehr zu erschrecken.

Der Besuch des US-Präsidenten hielt allerdings die kommunistisch dominierte Duma nicht davon ab, Jelzin und den geschäftsführenden Ministerpräsidenten Wiktor Tschernomyrdin weiter unter Druck zu setzen. Gestern forderten die Abgeordneten Tschernomyrdin auf, seine Kandidatur für das Amt des Regierungschefs zurückzuziehen. Duma-Präsident Gennadi Selesnjow hatte noch am Dienstag bekräftigt, Tschernomyrdin habe „keine Chance“, beim zweiten Durchgang gewählt zu werden. Dieser soll bereits am Freitag stattfinden.

Derweil stellte Jelzin in aller Ruhe das Kabinett zusammen. Per Dekret verfügte er, daß unter anderem Außenminister Jewgeni Primakow, Verteidigungsminister Igor Sergejew und der stellvertretende Ministerpräsident Boris Fjodorow der neuen Regierung angehören sollen. Sollte Tschernomyrdin bei der Abstimmung in der Duma dreimal durchfallen, ist das ohnehin alles Makulatur. Wirtschaft Seite 8

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