: „Das Kind gehörte zu mir“
■ Vor dem Bremer Landgericht muß sich eine 41jährige Betriebswirtin wegen Mordes an ihrer elfjährigen Tochter verantworten / Sie habe nur sich selbst umbringen wollen
Immer wieder bricht die Angeklagte, die sich wegen Mordes an ihrer elfjährigen Tochter vor dem Landgericht verantworten muß, in Tränen aus. Ihre Stimme bricht. Sie drückt ein zerknülltes Papiertaschentuch auf ihre Augen. Wenn sie weiterspricht, ist ihre Stimme so dünn, daß man sie kaum versteht. „Ich kann gerne eine Pause machen“, sagt die Vorsitzende Richterin Hilka Robrecht. „Aber Sie müssen durch.“ Die Angeklagte nickt mit dem Kopf. Leise spricht sie weiter, wieder gerät sie ins Stocken und weint. Es fällt ihr leichter, auf Fragen zu antworten.
Das, was im Saal 239 des Bremer Landgerichts zur Sprache kommt, ist auch für die Zuhörer schwer auszuhalten. Am 29. Januar geht die 41jährige Betriebswirtin abends kurz nach elf Uhr in das Kinderzimmer ihrer Tochter. Das Kind schläft. „Ich habe ihr den Schal von hinten um den Hals gelegt und über Kreuz zugezogen“, liest die Richterin aus dem Vernehmungsprotokoll der Kripo vor. „Ja, daran erinnere ich“, schluchzt die Angeklagte. „Schrecklich.“ Das Kind wacht auf und wehrt sich. „Mama, was machst Du da“, sagt es. Und: „Ich will leben.“ „Es ging ein richtiger Kampf los“, liest die Richterin weiter. „Meine Tochter hat mit den Armen gerudert und mir die Brille von der Nase geschlagen. Sie hat sich unwahrscheinlich gewehrt.“ Mit dem Messer sticht die Mutter auf ihr Kind ein. Sie schleppt das schwerverletzte Mädchen in den Flur. Dort hat sie – eigentlich, um sich selbst nach der Tat zu erhängen – zwei Koffergurte am Treppengeländer befestigt. „Ich habe ihr die Schlinge um den Hals gelegt und die Leiter weggezogen. Sie hing dann frei. Ich habe sie dann hängenlassen“, heißt es im Protokoll. Daß der Tod durch Erhängen nach etwa zwei Minuten eintritt, hatte die Angeklagte vor der Tat in einem Medizinbuch nachgeschlagen. Außerdem hatte sie sich vergewissert, wo das menschliche Herz liegt. Die Angeklagte holt eine Schere aus der Küche und schneidet ihre Tochter vom Treppengeländer ab. Das Kind gibt ein „gurgelndes Geräusch“ von sich. „Ich dachte, jetzt muß es sein und habe noch mal zugestochen.“ Als diese Passage aus dem Kripo-Protokoll vorgelesen wird, kneift die Angeklagte die Augen zusammen, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Tränen rinnen über ihre Wangen. Ein Zuhörer verläßt den Saal. Zehn Messerstiche in Brust und Rücken, hat Gerichtsmediziner Dr. Thomas Krämer bei der Obduktion gezählt. Die Stiche seien lebensgefährlich gewesen, aber der Tod sei durch Erhängen eingetreten, sagt er vor Gericht.
Nach der Tat versucht die Frau, sich umzubringen. Sie setzt sich mit einem Fön unter die Dusche und zieht sich Plastiktüten über den Kopf. „Ich habe eine ganze Menge versucht, um zu sterben. Ich weiß nur noch, daß ich sterben wollte“, sagt sie. Das Gericht macht eine Pause. „Zum Durchatmen“, sagt die Vorsitzende Richterin. Beim Verlassen des Gerichtssaals schüttelt eine ältere Frau den Kopf. „Wie kann eine Mutter nur so etwas tun“, sagt sie.
„Ich habe keinen Ausweg gesehen“, schluchzt die Angeklagte kurz darauf im Gerichtssaal. Mit einem Existenzgründerdarlehn von 85.000 Mark hatte sich die Betriebswirtin im Frühjahr 1996 mit einem Reisebüro selbständig gemacht. 60.000 Mark bekommt sie von ihrem Vater. Bis zum Januar hatten sich ihren Angaben zufolge 150.000 Mark Schulden aufgehäuft. Wenige Stunden vor der Tat kommt der Anruf von der Bank. Die Kreditlinie wird nicht verlängert. Im Büro schreibt die Angeklagte Abschiedsbriefe. „Für mich hat das alles an diesem Kredit gehangen. Ich hab' gedacht, wenn ich diesen Kredit nicht kriege, ist alles aus.“
Zuerst habe sie nur sich selbst umbringen wollen. „Aber ich konnte meine Tochter nicht alleine lassen“, erklärt die Angeklagte. „Ich wollte nicht, daß meine Tochter völlig mittellos aufwächst, behaftet mit dem Bewußtsein: ,Meine Mutter ist eine Selbstmörderin und hat mich alleingelassen.' Das fand ich ganz schrecklich.“ Über ihre finanzielle Not spricht die Angeklagte mit niemanden. „Ich habe immer so getan, als wenn alles glänzend lief“, sagt sie. Und: „Ich hatte Angst, wieder als Versager dazustehen, ich habe noch nie etwas erreicht.“
Als die Angeklagte ihren Lebenslauf schildert, zeichnet sie das Bild einer Frau, die nie versagen durfte. Ihr Vater habe sie immer „verachtet“, sagt sie. Mit acht Jahren habe er sie sexuell mißbraucht. Als ihr Notendurchschnitt nicht reicht, um aufs Gymnasium zu gehen, schicken die Eltern sie auf eine Privatschule. Nach der Fachhochschulreife will sie eine Lehre als Kinderkrankenschwester machen. Doch die Eltern, die beide kein Abitur haben, wollen, daß ihre einzige Tochter studiert. Die Angeklagte studiert an der Fachhochschule Architektur. Obwohl ihr das Studium nicht liegt, schließt sie es ab. Anschließend studiert sie an der Universität Wirtschaft. Während des Studiums heiratet sie und bekommt ihre Tochter. „Nein, es war nicht die ganz große Liebe“, erzählt die Angeklagte auf Nachfrage. „Aber es war auch kein anderer da. Und es war auch schön, jemanden zu haben.“ Ihr Mann, ein Einzelhandelskaufmann, der sich später zum EDV-Kaufmann weiterbildet, möchte, so die Schilderung der Angeklagten, daß sie eine gutbezahlte Stelle findet, damit er zu Hause bleiben kann. „Das fand ich schon ungerecht. Ich mußte Studium, Haushalt und Kind unter einen Hut kriegen.“
Doch die Angeklagte findet keine Stelle. Knapp ein Jahr lang arbeitet sie bei Kraft-Jacobs-Suchard in der Forschungsabteilung. Der Zeitvertrag wird nicht verlängert. Danach hält sie sich und ihre Familie „mit Jobs über Wasser“. Als ihre Tochter fünf Jahre alt ist, läßt sich die Angeklagte scheiden. Sie fühlt sich „eingeengt“ und gleichzeitig „in Stich gelassen“. Nach der Scheidung bleibt sie mit ihrem Mann in Kontakt. Es entwickelt sich sogar ein freundschaftliches Verhältnis. Als die Angeklagte 1996 ein Reisebüro eröffnet bürgt ihr geschiedener Mann für 40.000 Mark. „Ich habe mich so geschämt“, sagt die Angeklagte. „Ich wollte für mich und meine Tochter eine Existenz aufbauen. Und ich mußte erkennen, daß ich gescheitert war“. Auf die Idee, daß Kind zum Vater zu geben, sei sie nicht gekommen. „Das Kind gehörte zu mir. Es war doch ein Teil von mir.“ Ob der Mißbrauch durch ihren Vater bei dieser Entscheidung auch eine Rolle gespielt habe, will der beisitzende Richter wissen. „Nein, bewußt nicht“, sagt die Angeklagte. „Das war nur so ein diffuses Gefühl.“Kerstin Schneider
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