Von irgendwo nach anderswo

Der Pinochet-Putsch am 11. September 1973 trieb Hunderttausende Chilenen ins Exil. Eine von ihnen war Natacha. Bis sie in Berlin eine Heimat fand, war ihr Leben eine Odyssee  ■ Von Frank Rothe

Natacha wurde von ihrer eigenen Großtante auf die Welt geholt. An einem Novembertag des Jahres 1969 blinzelte sie zum ersten Mal ins Licht der Sonne – der Sonne über Chile. Doch als sie ein Jahr später mit Gleichaltrigen in einem Kindergarten spielt, sind das ungarische Kinder. Ihr Vater ist von der Kommunistischen Partei Chiles nach Budapest delegiert worden. Für die Weltjugendorganisation vertritt er sein Land in Ungarn. Es sind ruhige anderthalb Jahre. Natachas Erinnerungen kreisen bis heute ausschließlich um den Kindergarten.

Am 11. September 1973 putscht in Chile das Militär. Armeegeneral Augusto Pinochet gelangt an die Macht. Die Diktatur reißt das Land in einen Abgrund aus Verzweiflung, Angst und Wut. Blut fließt, Familien brechen auseinander, Menschen verschwinden im Nirgendwo. Natacha ist vier Jahre alt und wieder in ihrem Geburtsland. Sie merkt, daß ihr Vater immer seltener zu Hause ist. Daß er zur kommunistischen Parteispitze gehört, kann sie nicht wissen. Die Eltern lassen sie im unklaren über die Tätigkeit des Vaters, damit sie sich nicht verplappert. So spielt Natacha ganz selbstverständlich mit anderen Kindern auf der Straße. Für sie sieht die Welt jeden Tag gleich aus.

Mit sechs Jahren geht sie in die Vorschule, mit sieben kommt sie in die erste Klasse. Alles wirkt normal – bis zu dem Tag, an dem mehrere Männer in Uniform ihr Haus in Santiago de Chile umstellen. Sie dringen in das Haus ein und verhören Natachas Mutter. Wo ihr Mann sei, wollen sie wissen. Sie wollen ihn haben. Warum, das sagen sie nicht. Es muß nicht gesagt werden.

Im Morgengrauen verläßt Natacha mit ihrer schwangeren Mutter und dem älteren Bruder das Haus. Als sich die Tür hinter ihnen schließt, weiß sie nicht, daß sie ihr Geburtsland so bald nicht wiedersehen wird. Vorerst jedoch findet sie mit ihrer Mutter und dem Bruder Unterschlupf in einem Kloster. Von dort wird über Boten und Vertrauensleute die Flucht organisiert. Mit Unterstützung der Vereinten Nationen wird die Ausreise in die Wege geleitet.

Ihren Vater trifft Natacha erst am Flughafen wieder. Nach dem Durchschreiten der Paßkontrolle ist die Familie wieder vereint. Zusammen besteigen sie das Flugzeug, das sie in die DDR bringen wird. Die Erinnerung Natachas an die Ankunft in der neuen Heimat besteht aus Milchflaschen mit Aluminiumdeckel. Sie stehen auf dem Frühstückstisch eines Hotels in Eisenach. Die Milch schmeckt ihr nicht. Es ist eine fremde Milch.

Kurze Zeit später fährt die Familie nach Cottbus, um dort eine Wohnung zu beziehen. „Als Kind habe ich die Dinge nicht so tragisch wahrgenommen. Die erste Zeit war schwierig, da ich kein Deutsch konnte und gleich in die Schule mußte. Manchmal bin ich auch weggelaufen. Es gab vieles, was ich so nicht kannte. Nach dem Turnunterricht mußten wir Mädchen mit den Jungen unter eine Dusche. Ich habe mich geweigert“, erzählt sie. Natacha ist noch nicht klar, daß sie von nun an im Exil leben wird. Sie kommt sich vor wie ein Marsmensch auf Besuch. Die Mutter bleibt zu Hause. Der Vater geht arbeiten. Er bemüht sich darum, Kontakte zwischen Exilchilenen in aller Welt herzustellen.

Ein Jahr später greift die Kommunistische Partei erneut in Natachas Leben ein. Ihr Vater wird nach Moskau gerufen. Dort befindet sich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chiles. Kaum daß Natacha Deutsch gelernt hat, findet sie sich in einem Land wieder, wo nur russisch gesprochen wird. Ihre Eltern beschaffen ihr einen Platz auf der deutschen Diplomatenschule. Sechs Jahre lebt sie in Moskau, findet ihre ersten langjährigen Freunde, ihre erste (platonische) Liebe. Zum ersten Mal fühlt sie sich heimisch. Sicher hätte sie sich auch bald ihre Haare zu Zöpfen geflochten und in russischer Weise nach oben gesteckt, wenn es nicht ihr Schicksal gewesen wäre, alles wieder aufzugeben.

Ihr Vater leidet unter dem russischen Klima, erkrankt immer häufiger und muß schließlich zurück nach Berlin. Die Wohnung, die die Familie in Berlin bezieht, ist aus Beton und liegt im Bezirk Marzahn. Natacha gerät in ihre erste Krise. Sie geht nicht mehr aus und hört nur noch russische Radiosender. „Ich habe sehr unter diesen Umständen gelitten“, sagt Natacha heute.

In Berlin geht sie auf eine normale deutsche Schule. Die Frage, ob sie überhaupt noch an ihre chilenische Heimat denke, stellt sich immer seltener. Sie fühlt sich als Russin, die in Ostberlin lebt und weiß, daß sie Chilenin ist. Nach ihrem Land verspürt sie schon lange keine Sehnsucht mehr. Natacha hat das Ruder ihres Lebens aus den Händen gegeben. Was mit ihr passierte, bestimmten die Eltern, die Diktatur und die Partei.

Eines Tages trifft ihre Familie die Entscheidung zur Rückkehr nach Chile. Sie wollen es riskieren, Pinochet ignorieren. Natacha freut sich. „Ich dachte damals, daß ich mich schon in Chile einleben würde. Doch dann kam ich auf eine Mädchenschule. Es war alles anders, als ich es gewohnt war. Die Sitten engten mich ein. Alle mußten brav sein, alles war verboten, die Schuluniform drückte, und jeden Morgen mußten wir gemeinsam antreten, um die Nationalhymne zu singen“, erzählt sie.

Wenige Monate später wird ihr Onkel ermordet. Er arbeitet als Lehrer. Eines Morgens, als er die Kinder am Eingang der Schule empfängt, fährt ein Auto vor. Männer springen heraus und zerren ihn in den Wagen. Ein Kollege will ihm helfen, wird jedoch in den Bauch geschossen. Bald darauf hört man etwas von drei Leichen auf einem Acker. Eine davon ist die von Natachas Onkel. Er war Gewerkschaftsführer und Kommunist und mußte dafür mit dem Leben bezahlen.

Enge Verwandte von Natacha werden verhört. Die Geheimpolizei will alles über ihren Vater wissen. Die Methoden sind brutal. Stundenlang müssen Natachas Verwandte in Räumen stehen, durch deren Wände Schreie von Gefolterten dringen. Natachas Familie verläßt das Land erneut. Als erstes fliehen sie nach Argentinien. Monate später geht es von dort weiter nach Schweden. „Es war wie immer. Wir waren auf der Flucht. Auf der Flucht vor Pinochet und seinem Regime“, sagt Natacha.

Ihr Vater ist jetzt arbeitslos: In Schweden erfährt er, daß er von der Kommunistischen Partei zeitweilig ausgeschlossen wird. Der Ausschluß soll auf eine Intrige zurückzuführen sein – innerhalb der Parteispitze, meint Natacha. Die Familie bezieht eine Wohnung in Stockholm. Natacha verläßt sie nur noch für die Schule. „Es war ein Scheißleben, an dem vor allem Chile Schuld trägt. Immer war ich unterwegs, schloß neue Freundschaften, die bis zum Verlassen des jeweiligen Landes hielten“, klagt sie. Und auch in Schweden findet die Odyssee kein Ende. Natacha möchte zurück in die DDR, wie ihre Familie auch. Sie ziehen erneut um. In Berlin geht Natacha noch einmal in die zehnte Klasse. Mittlerweile ist sie 17 Jahre alt. Mit einer Drei als Abschlußzensur wird ihr der Zugang zur Erweiterten Oberschule verweigert. Natacha beginnt eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin, schließt sie ab. Doch nach wenigen Arbeitsmonaten verändert sich schon wieder ihre Welt: Die DDR bricht zusammen, Natachas Eltern lassen sich scheiden, und der Christdemokrat Patricio Aylwin gewinnt die ersten Präsidentschaftswahlen in Chile nach dem Ende der Militärdiktatur.

Natacha sucht einen neuen Halt. Mit ihrem Vater und den Brüdern kehrt sie in ihr Geburtsland zurück. In einem Architekturbüro findet Natacha Arbeit. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist sie zufrieden. Sie fühlt sich wohl, bis ihr Vater an Krebs erkrankt. Er wird operiert, doch das Geld für die nötigen Nachbehandlungen fehlt. „Da wir als Familie immer zusammengehalten haben, beschlossen wir, gemeinsam zurück nach Europa zu gehen“, erzählt sie. Das vom Vater gegründete Reisebüro in Chile übernimmt ein Onkel. Als Natacha 1992 in das Flugzeug steigt, weiß sie endgültig, daß sie keine richtige Heimat mehr hat. In Schweden angekommen, versucht sie alles, um so schnell wie möglich nach Deutschland zu kommen. Mit keinem anderem Land fühlt sie sich stärker verbunden als mit Deutschland, und keine andere Stadt liegt ihr mehr am Herzen als Berlin. Hier leben ihre Freunde, die sie durch die Jugend und den Zusammenbruch der DDR begleitet haben. Hier wird eine Sprache gesprochen, die sie gelernt und am häufigsten benutzt hat. „Deutschland war das Regelmäßigste in meinem Leben“, sagt sie.

1994 heiratet Natacha einen Freund, den sie fast ein Jahrzehnt lang kennt. Seitdem lebt sie in Berlin und kann es oft gar nicht fassen, daß sie jetzt schon vier Jahre an einem Ort lebt. „Manchmal werde ich richtig unsicher“, sagt sie, „dann denke ich, daß ich wieder weg muß. Aber wohin, weiß ich nicht.“