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„Sexskandal lenkt von realen Problemen ab“

■ Im New Yorker Stadtteil Brooklyn fürchten die Clinton-Wähler mehr Kongreßsitze für die Rechten

Morgens um sieben auf der 6th Avenue in Park Slope, Brooklyn. „Clinton hat doch seit seinem Amtsantritt gelogen“, stellt die Joggerin Laura Schere klar. Die 31jährige Lehrerin dreht vor Unterrichtsbeginn gern ein paar Runden, und heute kreisen ihre Gedanken um den Starr-Bericht, der in ein paar Stunden im Internet zu lesen sein wird. „Sex im Weißen Haus interessiert mich nicht die Bohne“, sagt sie, auf der Stelle trippelnd, „aber ich werde abends mal reinschauen, ob was über Whitewater drinsteht.“ Der Sexskandal um den US-Präsidenten lenke „von den realen Problemen ab“, klagt sie, „von überfüllten Klassenzimmern über die Benachteiligung der Schwarzen bis hin zur Außenpolitik“.

Park Slope ist eines jener mixed neighborhoods New Yorks, in denen sich der alternative Mittelstand aus der Kunst-, Schriftsteller- und Filmszene eingerichtet hat. Wer hier lebt, zieht die Demokraten den Republikanern vor. In „Ozzies Cafe“ auf der 7th Avenue, wo Frühaufsteher ihren ersten Cappucino mit einem Muffin versüßen, studiert Jeff Katz, ein Schauspieler in den 40ern, die New York Times. Er deutet auf das Titelbild vom Tage: mit Bill, dem Hillary lächelnd etwas zuflüstert. „Clinton wird nicht fair behandelt“, meint Jeff, „den Bericht so schnell ins Internet zu geben, das ist eine rechte Wahlkampfstrategie. Und der Sonderermittler Starr – ein eiskalter Politkarrierist.“ Und trotzdem: Er traue auch Clinton nicht mehr. Bei den Kongreßwahlen im November diesen Jahres werde er zu Hause bleiben, sagt Jeff.

Bei den Präsidentschaftswahlen von 1992 erreichte der Kandidat der US-Grünen, Ralf Nader, in Park Slope ebensoviel Prozent wie Clinton. Rechte Kandidaten haben hier traditionell keine Chance. Kein US-Durchschnitt also, und kaum Applaus für den Sonderermittler. Aber auch Frustration über die Clintons.

Trotz der gutgehenden Wirtschaft und einer Arbeitslosigkeit, die in Park Slope unter fünf Prozent liegt, werden sich die Liberalen hier ähnlich verhalten wie ihre Durchschnitts-Pendants im ganzen Land. Wenn der bedrängte Clinton und die Demokraten vor den Wahlen ihren Stammwählern den Frust nicht nehmen, bleiben die Leute zu Hause. Das Schreckensgemälde der Demokraten wird sich dann auch hier bewahrheiten: mehr Kongreß-Sitze für die Rechten, weil Clintons Anhänger verärgert sind.

Laura Schere hält vor „Ozzies Cafe“ noch einmal an: „Die Leute sind es satt, von sex, lies and videotapes zu hören“, meint sie, „dieses Land geht den Bach runter.“ Max Böhnel, New York

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