Erst die Kindheit, dann die Zukunft

„Täterin nach schwerer Opferrolle“: Zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung für eine junge Türkin, die auf ihren Schwager schoß, weil der sie jahrelang mißbraucht hatte  ■ Von Elke Spanner

Er lachte nur höhnisch. „Wenn er nur einmal gewinselt hätte“, sagt Ayse Y. (*) bitter, „wenn er nur einmal ein bißchen Angst gezeigt hätte, dann hätte ich das Ding weggesteckt“. So aber drückte sie ab. Ihr Schwager überlebte schwerverletzt. Die Neunzehnjährige wurde jetzt wegen versuchten Totschlages zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt.

Die Geschichte beginnt nicht erst in dem Moment, wo Ayse beschließt, ihren Schwager zu töten, und sich den Revolver besorgt. Sie beginnt sieben Jahre zuvor. Das türkische Mädchen ist zwölf Jahre alt, als ihr Schwager sie das erste Mal sexuell mißbraucht. Sie wird entjungfert – eine Schande für ein Mädchen aus einer streng muslimischen Familie, doch was das für sie bedeutet, ahnt Asye damals noch nicht. „Mir ist beigebracht worden, daß Erwachsene nie etwas Falsches machen“, wird sie später im Prozeß erzählen, und daß „ich dachte, von meinem Verwandten kann mir nichts Böses geschehen“.

Also wehrt sie sich nicht, auch nicht in den folgenden Jahren, in denen der Schwager sie immer wieder sexuell mißbraucht. Eines Tages nimmt ihr Ekel überhand. Doch da hat er schon Videofilme von ihr, mit denen er sie erpreßt. Auch ihre Drohung mit einer Anzeige läßt ihn kalt, denn dann, so kündigt er an, „erfährt deine Familie, welche Schande du über sie gebracht hast“.

Schließlich ist Ayse 19 Jahre alt – ein Alter, in dem sie an Heirat denken muß. Sie hat einen Freund, und täglich rechnet Ayse mit dessen Antrag. Sie hofft darauf, und sie fürchtet sich davor. Denn der Freund ist strenger Moslem, ihre Angst vor seiner Reaktion auf ihre Offenbarung groß. Den Druck des Schwagers im Nacken, tut sie den Schritt und vertraut sich dem Freund an. Der ist fassungslos. Er bittet sich Bedenkzeit aus. Zwei Tage später macht er Schluß. Eine Frau, die keine Jungfrau mehr sei, könne er nicht heiraten, teilt er ihr bedauernd mit.

Für Ayse bricht alles zusammen. „Mein Schwager hat mir meine Kindheit weggenommen, und jetzt nimmt er mir auch noch die Zukunft“, begründet sie im Prozeß, was sie dann tat. Sie besorgt sich die Pistole und verabredet sich an einem Abend im April mit dem Mann. Sieht in sein überheblich grinsendes Gesicht, als sie die Waffe zückt, sieht die Abfälligkeit, die darin liegt, und drückt ab.

„Nach der Tat fühlte ich mich befreit. Mir wäre aber lieber gewesen, er wäre gestorben“, sagt sie später vor dem Richter, der sie in Untersuchungshaft nimmt. Fünf Monate verbringt sie im Gefängnis am Holstenglacis. Erst heißt es, wegen Fluchtgefahr, „schließlich ist sie Türkin“, dann, weil sie erneut versuchen könnte, ihren Peiniger zu töten. Der kommt trotz des Verdachts des sexuellen Mißbrauchs nicht in Haft.

Im Prozeß gegen Ayse ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen, aber ihre Freundinnen harren den ganzen Tag auf dem Gerichtsflur aus, in der Hoffnung, einen Blick erhaschen, Ayse einen Kuß zuwerfen und kurz Mut zusprechen zu können. Schließlich, am zweiten Verhandlungstag, kommt Ayse aus dem Saal und erzählt, daß sie aus der Haft entlassen werden soll. Eine Freundin und ihre Mutter kippen ohnmächtig um.

Bei der Urteilsverkündung am vergangenen Freitag sitzt auch ein Gerichtsangestellter im Zuschauerraum, der nur zweimal Protokoll geführt hat, und der Dolmetscher, der schon längst nicht mehr im Prozeß tätig ist. „Ich will wissen, wie das ausgeht“, sagt er, und es klingt nicht voyeuristisch, sondern mitfühlend. „Die Freundinnen von Ayse haben seither viel darüber gesprochen, welchen Zwängen sie unterliegen“, sagt Ayses Rechtsanwältin Gül Pinar. „Auch als Zeuginnen sagten sie im Prozeß: ,Bei der Hochzeit keine Jungfrau zu sein, ist das Ende'.“

Auch das Landgericht erkennt die „völlige Ausweglosigkeit“ an. Die Strafkammer hat viel Erfahrung mit Verfahren wegen sexuellen Mißbrauchs, und dieser, so Richter Kai-Volker Oehlrich, „enthält alle typischen Elemente“. Ayse habe in einem „sich steigernden, aufgestauten Affekt“ gehandelt. Oehlrich: „Sie wurde zur Täterin nach jahrelanger schwerer Opferrolle.“

Rechtsanwältin Pinar weiß, daß „ihre Familie fest zu Ayse steht“. Ob es auch so gewesen wäre, wenn sie nicht versucht hätte, den Mann umzubringen, „das weiß ich nicht“.

(*) Name geändert