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Weltklasse: Kohl macht den Chat

■ Nach Spott über die Online-Präsentation der CDU demonstriert der Kanzler seinen Zukunftswillen. Morgen redet er mit der Netzgemeinde

Die CDU mußte reagieren. Bisher wurde ihr Netzauftritt nur bespottet, etwa als „monoton“ (Tagesspiegel) oder „bierernst und spaßfrei“ (online-today). Dagegen heimste die sozialdemokratische Konkurrenz unter http://www.spd.deMeriten ein. Ein lebendiges Design und die Konzentration auf Kandidat Gerhard Schröder ließen die SPD-Site mediengerechter erscheinen – zum Verdruß der Wahlkämpfer im Adenauer- Haus.

Wie im Wahlkampf ansonsten auch soll nun Helmut Kohl sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen. Morgen stellt er sich in einem zweistündigen Chat der vernetzten Wählerschaft.

Schon mit dem Relaunch der CDU-Homepage Ende August kündigten sich die Online-Ambitionen der Partei an. Mit der Sektion „Wahlkampf-Special“ sorgte sie dafür, daß auch der Kanzler seine Kandidaten-Homepage bekam. Freilich flimmert die in einer Mischung aus Fernsehspot und Online-Service mit Kanzler-Konterfei ziemlich eigenwillig vor sich hin.

Unter der Adresse http://www.kohl.de ist der Kanzler nicht zu finden – dort wirbt das Aachener Autohaus Kohl. Die CDU-Wahlkämpfer verzichteten auf die Besetzung einer Kandidaten-Domain und nutzten lieber das heimelige Umfeld der virtuellen Parteizentrale unter http://www.cdu.de als Rahmen für den Spitzenkandidaten. Auf diese Weise sind zwar gute Zugriffszahlen garantiert, doch neue Wähler dürften kaum erreicht werden. Die eigenständige Plazierung in den Weiten der Netzwelt hätte schon eher eine neue Klientel erschließen können, eine eigene Kandidaten-Site zu unterhalten ist aber aufwendiger als ein Sonderangebot in der virtuellen Parteizentrale.

Und nun also der Chat. Die CDU-Homepage kündigt den „Event“ mit einem Werbebanner an – im neuen Wahlkampf-Special ist der Kohlsche Online-Auftritt aber nicht verzeichnet: Dort folgt auf das Kanzler-Erlebnis heute in Bitterfeld die morgige Visite in Dresden, bevor es am Samstag in Ludwigshafen weitergeht. Offenbar wähnen die Wahlwerber diskussionsfreudige Chatter vor den Fernsehschirmen, wo ein TV-Spot die digitale Plauderstunde bewirbt: Helmut Kohl lädt aus dem Off zur Diskussion „im Internet“, doch will ihm die Vokabel nur recht holprig über die Lippen gehen. Immerhin verweist der Clip auf ein arges Manko des bisherigen Online- Wahlkampfes: Zu selten haben die digitalen Wahlkämpfer den Datenraum verlassen und die Verzahnung mit dem Offline-Wahlkampf gesucht.

Was wird nun morgen geschehen, wenn sich der Kanzler zwei Stunden lang mit interessierten Netzbürgern zum Online-Chat trifft? Ein intensiver, problemorientierter Austausch wohl kaum. Und auch die große Blamage des Netz-Novizen Kohl ist kaum zu erwarten. Dafür werden die analogen Assistenten schon sorgen, die dem Kanzler an Monitor, Maus und Tastatur zur Hand gehen. Eher ist mit großem Andrang zu rechnen, vielen Fragen, wenigen Antworten und überlasteten Leitungen. Zumindest vordergründig könnte die Mission „Kanzler ans Netz“ zum Erfolg werden, falls die Presse brav die Formel „Kohl + Internet = zukunftsfähige Medienkompetenz“ transportiert.

Doch das wäre zu einfach. Zu abwegig ist das Szenario vom chattenden Jahrtausendkanzler, zu konstruiert die Inszenierung als Wahlkampfgroßereignis. Die Demonstration der Zukunftsfähigkeit zerfällt schon durch die kurze Zeit, die Kohl den Internetnutzern widmet. Obwohl die Netzgemeinde in Deutschland inzwischen größer ist als jede Stadt, hat der Kanzler gerade mal zwei Stunden für sie eingeplant. Das Internet liegt für ihn immer noch irgendwo zwischen Bitterfeld und Ludwigshafen – es ist eben Provinz. Christoph Bieber

Chbieber@aol.com

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