: Warten auf den Tomatenwurf
■ Bis dahin erfreut der Kulturbahnhof Vegesack mit einem kunterbunten Projekt über die „wilden“ 60er Jahre
Ulla Deetz war 1968 gerade 15 Jahre alt. Lothar Klose war schon 17. Frank Ruge feierte seinen ersten Geburtstag, und Nicole Tiedemann war höchstens eine Idee. Trotzdem bekommt dieses Quartett Herzklopfen, wenn es 30 Jahre danach die Jahreszahl 1968 hört: Herzklopfen, weil laut Klose „damals so viel passiert ist“. Und Herzklopfen, weil es ziemlich anstrengend ist, diese Atmosphäre, „in der es richtig abging“ (Klose), für heutige Zeiten aufzubereiten. In einer Ausstellung zum Beispiel, die samt Konzertreihe, Modenschau, Partys, Diskussionen, Filmvorführungen und einem Zeitgeist-Revival ab heute im Kulturbahnhof Vegesack zu sehen, zu hören, zu feiern und zu betanzen ist, bis das Herz klopft.
Im Schatten der Hochhäuser auf der Grohner Düne ist von Aufbruch zunächst nichts zu sehen. Grünspan hat sich an der Fassade abgesetzt, und wie immer schallt aus einem der Windfänge des Wohnblocks ein Geräusch herüber, das die PassantInnen neugierig ihre Köpfe drehen läßt. Doch ab morgen werden sie sich auch dem kleinen alten Güterbahnhof auf der gegenüberliegenden Seite zuwenden, wo Nicole Tiedemann, Lothar Klose und viele andere zeigen, wie man mit wenig Geld und viel Engagement ein Projekt namens „Generationen – Die Sixties/Eine Zeitreise in die wilden 60er Jahre“ auf die Beine stellt.
Ein besprayter R 4, ein Fiat 500, Kleider, Fotos, ein Installation mit den aufgezeichneten Erinnerungen von Zeitzeugen wie Gerhard Augustin und Fritz Bettelhäuser sowie Volker-Ernsting-Karikaturen aus der Zeit, als er noch keine Sengstakes, sondern für „Pardon“ zeichnete, hängen und stehen da in dem museumsreifen Güterschuppen. Nicole Tiedemann (Jahrgang 1971) hat Monate damit zugebracht, eine aus Hamburg übernommene Ausstellung mit Relikten aus der Region zu ergänzen und zu verdoppeln.
So konnte sie neben der großen Halle auch noch ehemalige Büroräume des alten Bahnhofs möblieren und mit dem Zubehör einrichten, das sie für „typisch 68“ hält: „Floccati-Teppiche, Matratzen auf dem Boden und Che-Guevara-Plakate an der Wand.“ Und wenn Lothar Klose sie ließe, würde sie ihre Aufzählung bestimmt weiter fortsetzen und Doors-Platten erwähnen und braune Cordsofas und Korbsessel und das nicht-ganz-original-68er-Plakat mit Frank Zappa auf dem Klo, das in den 70er Jahren zu ungezählten Familienkrächen geführt hat.
Aber Klose läßt nicht ihr, sondern seinem Temperament freien Lauf, redet sich in Rage und ist das lebende Beispiel dafür, daß der Tomatenwurf auf den SDS-Vorstand Geschichte ist: „1968 fand nicht nur in Berlin oder Frankfurt statt, auch hier haben wir uns auf die Gleise gesetzt“, sagt er, redet mit leuchtenden Augen von den vielen Freundinnen damals, von freier Liebe, von seinem zwölfjährigen Sohn, der gar keine Ahnung hat, „was Mama damals geträumt hat“. Und dann merkt er selbst, wie es aus ihm hervorsprudelt, appelliert an Nicole Tiedemann „Nun sag doch auch mal was“ und fällt gleich danach aufgeregt sich selbst ins Wort. Und ein bißchen von dieser Aufregung wollen die Leute vom Kulturbahnhof Vegesack wieder aufleben lassen, generationsübergreifend, wie sie betonen.
Und deshalb haben sie für das Programm auch eine generationsübergreifende Mischung zusammengestellt. Die reicht von einer Modenschau der Fachhochschule für Gestaltung (zur Eröffnung heute, 18. September, um 20 Uhr) über Konzerte der Gruppe „Agentenmusik“ (24. September, 21 Uhr), der Beatles Revival Band (3. Oktober, 21 Uhr) bis hin zu Punk und Hip Hop mit den „Running Amphibiens“ und „PCP“ am 25. September um 20 Uhr. Dieses Konzert bekommt an einem besonderen Tag eine besondere Form: Genau 33 Jahre nach dem ersten „Beatclub“ wird es Gerhard Augustin, der Moderator jener Sendung, als „Beatclub“ moderieren und anschließend als DJ Platten auflegen. ck
Die Ausstellung „Generationen – Die Sixties!“ wird heute, 18. September, um 20 Uhr eröffnet und ist bis zum 4. Oktober zu sehen. Extra-Programm mit Filmen („Ich bin ein Elefant, Madame“, „200 Motels“ und vielen anderen), Konzerten und Diskussionen täglich außer montags. Weitere Infos und Karten unter Tel.: 65 00 60
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