Heftige Temperaturschwankungen

In Stephan Krawczyks zweitem Roman „Bald“ gewinnt endlich die dunkle Seite der diktatorischen Macht an Kontur. Dabei zweifelt Krawczyk auch kräftig am schlechten Charakter des neuen, postsozialistischen Menschen  ■ Von Udo Scheer

Der Held sucht vor allem einen geregelten Tagesablauf: ausschlafen, ein warmes Getränk, den Morgenkack. Keinesfalls Eile. Grund genug für die Kündigung im „Kontor“. Rare Indizien deuten auf den Handlungsort DDR. Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse sind der Hauptgestalt Roman bald so gleichgültig wie der Mangel an Dielenbretter für den Ausbau der Wohnung. Nur wenige Dinge wecken sein Interesse wirklich: sein neugeborener Sohn, Kneipen und ein weibliches Wesen namens Wanda, das er bei dem mysteriösen Wörterspiel um den „Großen Kanon“ kennengelernt hat.

Außerdem versteht es der passionierte Vielschläfer, für seine Frau Hanna ein großes, zu umsorgendes Kind zu sein. Hanna ernährt die Familie, organisiert den Ausbau der Wohnung und beschwichtigt, wenn er seine Umwelt brüskiert. Kompromißlos beharrt Roman auf dem, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Etwa auf den Sohnesnamen Béla. „So nennt man einen Hund“ – „Dann war Béla Bartók wohl auch ein Hund?“ Allein der Name bietet Stoff für seitenlange vergnügliche Dialoggefechte. Über weite Passagen steht der Sohn im Zentrum. Da windelt die Großmutter mit Stolz den kleinen Béla, und der Großvater und Kirchenälteste hat vor allem zwei Wünsche: den Enkel taufen zu lassen und den Schwiegersohn arbeiten zu wissen.

Hier schickt es der – auffällig oft bemühte – Zufall, daß der Herr Pfarrer im unpassendsten Moment, während des nachmittäglichen Beischlafs der Eheleute, seine Aufwartung macht, Roman als Totengräber anstellen will und als Antwort dessen nackten Hintern hingereckt bekommt.

Erzählerische Talentproben für derbe bis kuriose Episoden aus dem Mikrokosmos kleiner Leute, gepaart mit Wortwitz und milieugenauen Dialogen hat Stephan Krawczyk bereits in „Das irdische Kind“ geliefert. Anders als in seinem autobiographischen Romanerstling gewinnt auch die dunkle Seite der diktatorischen Macht in „Bald“ an Kontur. Dennoch bleibt vieles so nebulös, als säße dem Autor noch immer der Zensor im Nacken.

„Zwei Ledermäntel“ mit „gestempelten Kärtchen“ stehen unvermittelt vor Romans Wohnung und verlangen, er solle eine „Erklärung“ unterschreiben. Seine Weigerung führt zum aufgebrochenen Tankdeckel seines „Es fährt“ und zu der Erfahrung, daß Benzin für ihn nicht zu haben ist. Auf dem „Revier“ erlebt er das Muskelspiel der Macht. Dabei gilt seine Leidenschaft nur dem „Großen Kanon“, jenem orakelhaften Erkenntnisspiel, zu dem sich Mitspieler aus dem ganzen Land heimlich treffen, um irgendwann die „Lösung“ zu finden.

Plötzlich sieht er sich aus dem Spiel gedrängt. Trotz heimlicher Wohnungsdurchsuchung und Personenkontrolle schleicht er sich in den durch die „Rosaroten“ streng bewachten Spielort, ein Kulturhaus. Er erfährt, der „Landesvater“ habe das Spiel für sich instrumentalisiert, die Spieler sind mit der Aussicht auf eine Reise als Hauptpreis gekauft. Roman, der Unangepaßte, wird aufgespürt, fantasymärchengleich durch Polizisten und „Semizivilisten“ bei Blitz und Donner im Wald verfolgt. Die List einer vorgetäuschten Ohnmacht rettet ihn, bis er in einen Hinterhalt gerät. Blau- und braungeschlagen kehrt er zurück in seine kleine familiäre Welt.

Nach den „Kalt“, „Wärmer“ und „Heiß“ überschriebenen Abschnitten des Romans verspricht es im letzten Teil „Kühl“ zu werden. Hier besucht Roman mit seinem Sohn auf dem Arm die „drangsalierten Tiere“ im herbstlichen Zoo. Er läßt sich auf kein ausfragendes Gespräch mehr ein. Durch Verkettung verschiedener Umstände, bei denen eine Sirene, volle Windeln, ein allmächtiger Busfahrer und ein die Dorfstraße blockierender Schwerlasttransport tragende Rollen spielen, trifft er Klara, die Tochter seines Stammkneipiers, wieder. Auch sie hatte die „Erklärung“ nicht unterschrieben. Sie wählte als Alternative das Leben mit eine groben Bauern und spekuliert auf Gütertrennung nach Hochzeit und Scheidung.

Die Geschichte des Roman, sein Name bedeutet in der Roma- Sprache „Mensch“, bleibt offen. Überlagert wird die Lektüre vom Unbehagen. Nach dem sozialistischen Ideal vom „Neuen Menschen“ soll nun das „Der Mensch“ sein: eigennützig, frotzelnd und faul? Hinter diesem Fragezeichen steckt die eigentliche, gelungene Provokation des Buches. Ärgerlich bleibt die künstliche Verengung des Themas durch hochgradige Verschlüsselung des Themas Macht. Aber vielleicht verspricht der Romantitel „Bald“ ja auch: Bald mehr!

Stephan Krawczyk: „Bald“. Volk & Welt, 368 Seiten, 39,80 DM

Stephan Krawczyk liest daraus morgen um 20.30 Uhr in der Kulturbrauerei – Galerie im Pferdestall, Knaackstraße 97