Also: Rettet die Wahl!
: Der Leidensweg zum Kreuz

■ Was einem so einfällt, wenn man sich auf den Weg zum Wahllokal begibt: Wolfgangsee, Schröder und Praktikantinnen, Westerwelle als High-Tech-Mann und „Wählt den Whopper“

Ein schöner Tag war's, die Sonne schien, und ich, mündiger Bürger, wollte wählen gehen. Im Hausflur traf ich meinen Nachbarn, den Philosophiestudenten mit seiner Freundin, der Psychologin. Als ich stolz erzählte, wo ich jetzt hingehe, winkte er nur müde ab und sagte mir: „Die Eigendynamik gesellschaftlicher Prozesse entzieht sich ohnehin intentionalem Handeln, also ist Politik nur Ausdruck dessen, was sowieso passiert. Außerdem wird doch alles nur durch Wirtschaft und Globalisierung diktiert.“

Und seine Freundin ergänzte verständnisvoll lächelnd: „Und selbst, wenn es nicht so wäre – kein menschliches Ego ist so stark, als daß es im Radius der Macht nicht korrumpiert werden würde.“ Schon etwas weniger beschwingt setzte ich meinen Gang fort. „Klugscheißer“, flüsterte ich und dachte mir: „Na ja, man kann ja Impulse fördern, hoffen, daß etwas von dem, womit die Parteien werben, sich durchsetzt. Wie beim Billardspielen, wo man blind eine Kugel anstößt in der Hoffnung, daß irgendeine andere reingeht.“

Ich kam schon wieder besser gelaunt am Prater-Café vorbei. Voila! Change 2000 – das ist doch mal was Neues: Kreativ! Dynamisch! Doch als ich die Leute sah, war ich mir auf einmal nicht mehr so sicher, ob es wirklich zukunftsweisend wäre, mit der Prenzelberger Avantgarde und dem Feuilleton- Schlingel im Volksbühnen-T-Shirt in den Wolfgangsee zu springen.

Nach einigen Schritten kam ich, noch grübelnd, an einem Schröder- Plakat vorbei. Letztes Mal habe ich wirklich versucht, Ziege zu wählen; dieses Jahr versuchte ich aufrichtig, Schröder zu glauben. Ich konnte es nicht. Ich hatte immerzu das Bild einer armen Praktikantin vor Augen.

Ich setzte meinen Weg fort. Meine Verunsicherung schien auf meine Wahrnehmung zu schlagen, denn plötzlich meinte ich, hinter dem Tresen eines Computergeschäftes Guido Westerwelle zu erkennen, und hatte die Vision, daß die FDP-Politiker mit ihrem Leistungsgesabbel in Wirklichkeit von Microsoft zum Computerverkaufen geklont wurden. Und Helmut Kohl? Weltklasse für Deutschland? Schattenmann von Mercedes-Benz? Zwar sind wir schlecht gefahren – aber immerhin, wir sind gefahren. Weitere vier Jahre dieses Gesicht?

Ängstlich hetzte ich weiter, da, in den Datschen, war das nicht Gregor Gysi und dort, die frankophilen Rotweinintellektuellen in der Bioweinstube, etwa die Bonner Riege der Grünen, die jetzt Armani-Anzüge tragen, weil sie Außenpolitik machen wollen? „Was ist denn mit dem Welthunger?“ sagte ich eher zu mir selber. „Wählt den Whopper!“

Irgendwann fand ich mich schwitzend vor meinem Wahllokal wieder, eigentlich wollte ich sofort wieder gehen, aber in der Wahlkabine war ich wenigstens allein, und das brauchte ich jetzt. Irgendwie setzte ich mein Kreuz, da, wo es mir rein assoziativ am angenehmsten schien, und war froh, vier Jahre Zeit zu haben, um mich von diesen Strapazen zu erholen. Ephraim Broschkowski

Sinnflut ist eine unabhängige Redaktionsgruppe von jungen Journalisten. Wir wollen ökologischen und sozialen Initiativen eine größere Öffentlichkeit verschaffen. Ziel unserer Arbeit ist, kreative Impulse im gesellschaftlichen Alltag durch unkonventionelle Berichterstattung zu verstärken. Aus gegebenem Anlaß war es uns ein Bedürfnis, Lust und Leid des Jungwählers zu einem authentischen Ausdruck zu verhelfen. Wobei wir auch dabei nicht ganz von unserer anachronistischen Ökoobsession lassen konnten.