: "Beim DFB hat sich taktisch seit 74 nicht viel getan"
■ Ist der deutsche Fußballprofi zu blöd für ein neues Spielsystem? Nein, sagt der Ulmer Trainer Ralf Rangnick, "geben Sie mir 16 Mittelstreckenläufer, und die sind in vier Wochen in der
taz: Herr Rangnick, ist der deutsche Fußball unmodern?
Ralf Rangnick: Die Diskussionen sind zum Teil absurd. Es gibt für mich keinen modernen oder altmodischen Fußball. Es ist wichtig, erfolgreichen Fußball zu spielen. Da wird ständig über Konzept- und Systemfußball geredet.
Was ist das?
Für mich dasselbe wie ein großer Riese oder ein kleiner Zwerg. Wenn eine Mannschaft Leistungssport betreibt, muß eine Systematik dahinterstecken, sonst überlasse ich den Erfolg nur Zufall und Fußballschicksal. Man kann auch aus einer traditionellen Grundordnung heraus erfolgreich sein. Der 1. FC Kaiserslautern ist verdient Meister geworden.
Bei der WM hatten die taktisch fortschrittlichen Teams einen deutlichen Systemvorteil.
Zugegeben: Bei der WM haben von den letzten vier Mannschaften alle in kompletter Raumdeckung gespielt, also entweder in einer 4-4-2-Formation oder in 4-5-1. Davor muß ich aus einer symmetrischen Grundordnung heraus spielen. Ein Spieler muß wissen, daß sich neben und auch hinter ihm Akteure befinden, die ihm helfen. Nennen wir es meinetwegen modern. Es scheint im Fußball ein Kausalzusammenhang zu bestehen zwischen dieser Grundordnung und erfolgreichem Spiel.
Dann ist es um den deutschen Fußball schlecht bestellt.
Es ist sicher auffällig, daß mit Ausnahme von Borussia Dortmund sich die internationalen Erfolge in den letzten Jahren in Grenzen gehalten haben – von der Nationalmannschaft ganz zu schweigen. Das hat mit dem Spielsystem zu tun: Freiburg in der Bundesliga, Mainz und Ulm in der 2. Liga sind Ausnahmen. Wir sind die Exoten: Das ist nicht nachvollziehbar.
Wie meinen Sie das?
Als Bielefeld sechs Tore bei uns gekriegt hat, wurde der zuständige Trainer Middendorp alles mögliche gefragt. Nur nicht, ob vielleicht seine Manndecker und der Libero die Gegentore verursacht haben. Wenn ein Coach 4-4-2 spielen läßt, wird sofort das System in Frage gestellt, wenn es mal nicht so läuft. Dabei ist die Viererkette Mittel zum Zweck, ein Grundraster und Teil meiner Philosophie, wie Fußball funktioniert.
Wie funktioniert er in Ulm?
Wenn es uns gelingt, in der Mehrzahl aller Spiele mehr Torchancen herauszuspielen als wir sie dem Gegner zulassen, werden wir mehr Spiele gewinnen als verlieren. Wenn der Gegner versucht, durch eine gezielte Aktion in unseren Rücken zu kommen, nahe zu unserem Tor zu kommen, dann brauchen wir eine kollektive Antwort darauf.
Das klingt banal.
Wenn ich auf sieben oder acht Positionen individuell schwächer besetzt bin als mein Gegner und lasse mich auf 1-gegen-1-Duelle ein, dann verliere ich dieses Spiel. Also muß ich zu anderen taktischen Mitteln greifen, um die individuellen Vorteile des Gegners zu kompensieren.
Wie sehen die aus?
Wir spielen komplette Raumdeckung. Es gibt keine Manndecker, weder in der Abwehr noch im Mittelfeld. Ich stelle keine Spieler ab, um gegnerische Akteure auszuschalten. Das ganze Team muß verhindern, daß der Gegner Torchancen bekommt: also muß man ihn durch Laufarbeit, durch Pressing möglichst weit vom eigenen Tor weghalten.
Was ist mit Angreifen?
Die komplette Mannschaft muß auch beteiligt sein, wenn es darum geht, Torchancen zu kreieren. Dort, wo der Ball ist, versuchen wir Überzahl zu erzeugen – wo sich Spieler befinden, die keine Bedrohung für unser Tor darstellen, sind wir in Unterzahl. Es gibt keinen Grund, einen gegnerischen Spieler zu decken, der 50 Meter von unserem Tor entfernt ist. Wenn ich den decken lasse, können die beiden Spieler genausogut gemeinsam den Platz verlassen.
Das System funktioniert?
Gucken Sie sich mal die Tabelle an. Wir stehen als Aufsteiger mit bescheidenem Etat ganz oben.
Herr Rangnick, wann sind Sie auf den Dreh gekommen?
Vor zwölf Jahren. Ich bin mit 26 Jahren Spielertrainer geworden und war in den ersten beiden Jahren total unzufrieden. Ich konnte der Mannschaft immer nur sagen: Du deckst den, und du den. Obwohl ich gute Mannschaften trainiert habe, ist es weniger guten Teams immer wieder gelungen, Torchancen gegen uns herauszuspielen. Das konnte nicht sein.
Was haben Sie getan?
Ich habe mich daraufhin mit ausländischem Fußball beschäftigt, mit der russischen Nationalmannschaft, Dynamo Kiew, dem AC Mailand und Ajax Amsterdam. Inzwischen spielen fast alle Topmannschaften in Europa komplette Raumdeckung – außer den deutschen. Ob das Juventus Turin, Lazio Rom oder Chelsea ist: Die spielen so, wie ich mir Fußball vorstelle. Da frage ich mich: Sind die Deutschen tatsächlich fußballerisch unterentwickelt oder nicht fußballintelligent genug? Daß dem nicht so ist, zeigen Teams wie Freiburg, Mainz und Ulm.
Warum tun sich andere mit Raumdeckung so schwer?
Den Nachteil, den deutsche Spieler gegenüber ausländischen haben, ist, daß Raumdeckung im deutschen Jugendfußball keine Rolle spielt. Die ersten Hinweise, die Sechsjährige bezüglich Raum und Gegner bekommen, sind: Du gehst nicht über die Mittellinie. Du deckst die Nummer 10, und wenn die auf die Toilette geht, mußt du mit. Wenn Kinder in ihren sogenannten besten Lernjahren so ausgebildet werden, muß ich mich nicht wundern, wenn sich Spieler später schwertun, bewußt einen Mann freistehen zu lassen, um in Ballnähe Überzahl zu erzeugen.
Nun kann die Ulmer C-Jugend Raumdeckung, das DFB-Team aber nicht.
Ein Nationaltrainer kann mal zehn Tage am Stück mit Spielern arbeiten, die es in der Bundesliga gewohnt sind, aus einer abwartenden, gegnerorientierten 3-5-2- Grundordnung heraus zu spielen. Das ist ein verdammt kurzer Zeitraum, um eine ballorientierte Raumdeckung einzustudieren. In der Jugend ist das viel einfacher.
Heißt das, die armen aktuellen Nationalspieler können nie mehr modernen Fußball spielen?
Nein, jeder Spieler ist in der Lage, eine ballorientierte Raumdeckung zu erlernen. Das oft gehörte Argument, daß Taktik und System sich nach den Spielertypen richten müsse, geht ins Leere. Geben Sie mir 16 Mittelstreckenläufer, mit denen ich vier Wochen an Theorie und Praxis arbeiten kann.
Und dann?
Dann sind die in der Lage, eine sehr gute ballorientierte Raumdeckung zu spielen. Die Grenzen liegen woanders: Was passiert, wenn ich den Ball habe? Dann muß ich mit der Kugel noch irgend etwas anstellen. Da stößt man leicht an Qualitätsgrenzen. Ein Problem, das man in der Kreisliga A genauso kennt wie in der Nationalmannschaft.
Wie beurteilen Sie deren letzte Auftritte?
Da hat sich seit der WM 1974 nicht viel geändert, was die gegnerorientierte Spielweise angeht. Schon damals wurde mit Libero gespielt, mit zwei Manndeckern, mit einem Fünfer-Mittelfeld. Taktisch hat sich seit 24 Jahren nicht viel verändert, auch aus einer Überheblichkeit heraus, lange Zeit den Fußball dominiert zu haben. Im Ausland hat sich aber sehr viel weiterentwickelt. Die WM hat gezeigt, daß ein 3-5-2-System kein Garant mehr dafür ist, daß der deutsche Fußball erfolgreich spielt, geschweige denn attraktiv.
Was kann man tun?
Wenn man Fußball als Mannschaftssport begreift und versucht, im Spiel mehr zu bringen als die Summe der individuellen Fähigkeiten, dann kann man sehr viel erreichen. Es waren sich alle WM- Experten einig, daß Brasilien über die besten Einzelspieler verfügt.
Sie zeigen Ihrem Team aber Videos des Weltmeisters Frankreich.
Ich versuche immer der Mannschaft Vorbilder zu geben. Die hat die WM mit Frankreich und auch Holland geliefert. Bei Frankreich waren alle Spieler beteiligt, wenn es darum ging, Tore herauszuspielen. Daß die Torschützen in den seltensten Fällen die Sturmspitzen waren, bestätigt das. Im Endspiel war auch der entscheidende Unterschied zwischen den Finalisten zu sehen: Wie sehr Frankreichs Sturmspitze und die dahinter spielenden zentralen Mittelfeldspieler gearbeitet haben, wenn der Gegner im Ballbesitz war – und wie wenig die beiden hochgelobten brasilianischem Sturmspitzen.
Sie wurden schon dafür belächelt, daß sie die Spielweise des SSV Ulm mit der des Weltmeisters verglichen haben.
Völliger Blödsinn. Wir haben vor unserem ersten Punktspiel dieses Video angeschaut, die örtliche Presse hat davon erfahren und geschrieben: „Ulm orientiert sich an Frankreich.“ Es ist für meine Mannschaft wichtig zu sehen, daß der Fußball, den sie spielt, nicht am Reißbrett entworfen wurde. Aber wir meinen deshalb nicht, auf Frankreichs Spuren zu wandeln. Das ist absurd.
In Ulm wird schon vom Aufstieg gesprochen.
Mannschaft und Trainer sind nicht so vermessen. Vielleicht können wir uns so entwickeln wie der Sportclub in Freiburg. Inzwischen nehmen uns die Ulmer mehr an: Das ist enorm wichtig, wenn man weiß, wie skeptisch der Schwabe schlechthin ist. Der will sonntags sehen, was wir die Woche über gearbeitet haben. Ob modern oder altmodisch, ist dabei egal. Interview: Rainer Schäfer
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