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Alles wird gut. Rußlands Premier verspricht, alle ausstehenden Gehälter würden im Oktober ausgezahlt. Alles wird schlecht. Bis zu 50 Milliarden Rubel soll die Notenpresse ausspucken. Erwartet wird eine Inflation von 240 bis 290 Prozent. Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Lohn kommt, Geld vergeht

Warum soll Milch teurer werden? Ist der Preis für Kühe etwa gestiegen?“ fragte Gouverneur Alexander Lebed und verfügte im sibirischen Krasnojarsk prompt einen Preisstopp. „Notsituationen erfordern Notmaßnahmen“, rechtfertigte sich der Ex-General lakonisch und bewies einmal mehr, daß er ein Mann der Tat ist: Die Steuerpolizei schwärmte aus, um zu kontollieren, ob Ladenbesitzer die Anordnung auch befolgen.

Lebed fürchtete nicht nur den Wucher der Händler. Hamsterkäufe der ganz normalen Bürger drohten in Windeseile die Regallandschaften zu veröden. „Ich bewege mich am Rande der Legalität, aber meine Maßnahmen sind gerechtfertigt“, entschuldigte sich Lebed. Inzwischen gehen immer mehr Provinzchefs dazu über, Schritte einzuleiten, die weder mit dem Zentrum abgesprochen sind noch in dessen Interesse sein können.

Auch zwei Wochen nach der Wahl Jewgeni Primakows zum neuen Premierminister Rußlands ist die Kabinettsbildung in Moskau nicht abgeschlossen. Nur wenige Politiker fanden sich sofort bereit, in die Regierung mit geringer Lebensdauer, aber um so mehr Haftung einzusteigen. Obwohl der Posten des Finanzministers noch nicht vergeben ist, stellte Kompromißpremier Primakow gestern „Elemente“ eines Krisenprogrammes vor. Der überfällige Schritt soll die Bevölkerung zunächst beruhigen, die endgültige Version wird indes noch auf sich warten lassen. Neben Primakow arbeitet eine Gruppe unter Leitung der altgedienten sowjetischen Akademiker Leonid Abalkin und Oleg Bogomolow an einem Programm, das dem Staat die tragende Rolle in der Wirtschaft zuschreibt. Einen dritten Entwurf liefert Vizepremier Alexander Schochin, der bisher eher zu den marktwirtschaftlich orientierten Kräften zählte.

Inwieweit es gelingen kann, die einander widersprechenden Vorstellungen zu einem gemeinsamen Konzept zu verbinden, wirft erhebliche Zweifel auf. Wahrscheinlich setzt sich am Ende das einflußreichere Kollektiv aus Plan- und Staatswirtschaftlern durch. Sie berieten bereits Altpräsident Michail Gorbatschow, dessen zögerliche Umgestaltungspolitik der Wirtschaft den Zusammenbruch der UdSSR eher beschleunigte. Ihre Frontmänner sind der Erste stellvertretende Vizepremier Masljukow (Porträt siehe unten) und Zentralbankchef Wiktor Geraschtschenko.

Der Notenbanker wird in den nächsten Tagen einige Überstunden machen müssen. Das Antikrisenprogramm sieht nämlich als eine der wichtigsten Aufgaben vor, die Lohnrückstände der Staatsbediensteten zu begleichen. Primakow kündigte an, die Regierung werde damit schon am 1. Oktober beginnen und die Schulden so schnell wie möglich abtragen. Da der Staat über keine anderen Mittel verfügt als über die Notenpresse, scheint das Antikrisenprogramm Inflation bewußt in Kauf zu nehmen. Inzwischen wird der Terminus „kontrollierte Emission“ in die Runde geworfen, um die Gefahren einer Hyperinflation herunterzuspielen. An deren Folgen vor fünf Jahren können sich die meisten Russen noch gut erinnern.

Die russische Zentralbank sprach sich gestern dafür aus, allein bis Jahresende 40 bis 50 Milliarden Rubel zu drucken. Wegen der Rubelabwertung seit Mitte August rechnet man mit einem Anstieg der Jahresinflationsrate auf 240 bis 290 Prozent. Ursprünglich waren einmal nur 5,7 Prozent vorgesehen.

Eine Sold-Zusage erhielt auch die Armee, der man im September gleich zwei ausstehende Monatslöhne versprochen hat. Ab Januar 1999 gedenkt die Regierung zudem einen Inflationsausgleich zu leisten und Verluste aus der Abwertung des Rubels zu kompensieren. Primakow gab keine genaueren Hinweise, wie man die Ausschüttung vornehmen wolle. Das Krisenprogramm scheint mithin nur ein kurzfristiges Ziel zu verfolgen: die Bürger mit Geld zu versorgen, damit sie dem Winter gelassener entgegenschauen können.

Außerdem kündigten Gewerkschaften und Kommunistische Partei für den 7. Oktober einen landesweiten Protesttag an. Hat die Regierung bis dahin bewiesen, daß sie ihr Versprechen hält, wäre der Sprengsatz erst einmal entschärft. Hyperinflation und leere Regale stellen sich ohnehin erst gegen Jahresende ein.

Wiktor Geraschtschenko empfahl unterdessen in der Duma, dem Unterhaus des Parlaments, ein Gesetz außer Kraft zu setzen, das der Zentralbank untersagt, das Haushaltsdefizit der Regierung durch Geldemission zu finanzieren. Geraschtschenko, der zum dritten Mal Chef der Notenbank ist, trieb Rußland schon einmal in die Hyperinflation. Im Vergleich zu früheren Zeiten hält er heute indes wesentlich mehr Kompetenzen in seiner Hand. Es obliegt ihm, Rußlands bankrottes Bankwesen mit Krediten auszulösen, und er wird es auch tun. Braucht die Regierung Geld, ist er es, der darüber entscheidet. Er ist berechtigt, an allen Kabinettssitzungen teilzunehmen, ohne selbst der Regierung rechenschaftspflichtig zu sein. Unversehens avanciert der Sowjetbanker damit zum stärksten Mann Rußlands.

Es steht außer Frage, daß Geraschtschenko den Direktoren der brachliegenden Industrie kräftig unter die Arme greifen wird. Auch der unproduktive Agrarsektor darf sich nunmehr auf üppige Finanzspritzen Hoffnungen machen. Die monetaristische Politik hat in den zurückliegenden Jahren dem Land nur bedingt Vorteile gebracht, während die Industrie keine Impulse von oben erhielt. Die Ankündigung, der Inlandsproduktion auf die Beine zu helfen, ist ein vernünftiger Ansatz. Bisher fehlt es aber an einem Konzept. Die Erfahrung hat vielmehr gezeigt, daß russische Großunternehmen sich gegen jegliche Neuordnung der Produktion zur Wehr setzen und staatliche Subventionen eher dazu nutzen, um weiterzumachen wie bisher. Erwirtschaften sie keinen Gewinn, müssen sie auch keine Steuern abführen, so die einfache Rechnung. Daher dominiert im Inland der Warentausch, das die Geldumlaufmenge schrumpfen läßt. Löhne können, wenn überhaupt, dann nur in Naturalien bezahlt werden. Nicht zuletzt ist es dieses spezifisch russische Phänomen einer virtuellen Ökonomie, das den Niedergang der Industrie verursacht hat.

Ob die neue Regierung bereit ist, dem vorsintflutlichen Wirtschaften entgegenzuwirken, ist fraglich. Zu vielen Wirtschaftsbossen aus der alten Nomenklatura, die nun auch in die Regierung zurückkehrt, bot die virtuelle Ökonomie schon ein erkleckliches Auskommen.

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