: Undemokratische Sperrklausel
Das Wahlrecht bestimmt den Zugang zur politischen Macht. An der Fünfprozenthürde scheitern die meisten politischen Formationen. Bei der Diskriminierung dieser Splitterparteien geht es nur vordergründig um PDS oder DVU – sie berührt das demokratische Selbstverständnis: Warum sollen nicht alle Tendenzen dieser Gesellschaft gleiche Chance haben, im Deutschen Bundestag vertreten zu sein? Ein Essay ■ Von Horst Meier
Die Fünfprozentsperrklausel gehört zum Kernbestand der bundesdeutschen Ideologie – ganz so, als habe man es mit einem Naturgesetz zu tun. Was machen schon ein paar Prozent, die nach einer Wahl unter den Tisch fallen?
Nachgerechnet ergibt sich freilich mehr als eine zu vernachlässigende Größe. Gut sechzig Millionen Wahlberechtigte wählen 656 Abgeordnete des Bundestages. Scheitert eine Partei knapp an den fünf Prozent, werden bis zu drei Millionen Wahlzettel entwertet beziehungsweise anderen Parteien zugeschlagen. In Mandaten heißt das: Über dreißig potentielle Volksvertreter werden aus dem Parlament ausgesperrt – pro „falsch“ gewählter Partei, wohlgemerkt! Noch ein Rechenexempel: Angenommen, die Wahlbeteiligung liegt bei ungefähr achtzig Prozent, dann wären rund 73.000 Wählerstimmen ausreichend, um einen Abgeordneten irgendeiner Liste in den Bundestag zu entsenden.
Tatsächlich haben die großen Parteien nur Angst, sich mit kleineren Formationen auseinandersetzen zu müssen. Der Bundestag als ein Vielparteienparlament mit Abgeordneten der PDS oder einer militanten Rentnerpartei, mit Stammtischrepublikanern oder einer Lesbenfraktion: Ist solch bescheidene Unübersichtlichkeit unserem Parlamentarismus unzumutbar?
„Aber Bonn ist nicht Weimar“, wenden viele ein. Führte nicht die sogenannte Parteienzersplitterung zur Machtergreifung der Nationalsozialisten? Noch ein Irrtum. Die letzte Weimarer Koalition demokratischer Parteien ist 1930 nicht an den Grillen irgendeiner exotischen Politsekte gescheitert, sondern am Austritt der SPD, die von ihrem Gewerkschaftsflügel gedrängt wurde, keine weiteren Kompromisse beim Sozialabbau zu machen.
Danach begann die Politik der Präsidialkabinette, die sich auf keine parlamentarische Mehrheit stützen konnten und daher mit Notverordnungen regierten; so ebnete der Reichspräsident der Diktatur den Weg. Und was die NSDAP selbst betrifft, so war diese bekanntlich deshalb gefährlich, weil sie zu einer militanten, antidemokratischen Massenpartei heranwuchs, die seit 1930 spektakuläre Wahlergebnisse zwischen 18 und 43 Prozent erzielte.
Schließlich die definitive Selbstentmachtung des Reichstags im März 1933: Auch das Ermächtigungsgesetz war keineswegs das Werk amoklaufender „Splittergruppen“, sondern das einer schändlichen Abstimmungskoalition aller bürgerlichen Parteien mit der NSDAP. Eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit (!) übertrug der Regierung Adolf Hitlers die gesetzgebende Gewalt. Kurz gesagt: Das Weimar-Argument ist gar keines.
Vielleicht fiele der Abschied von der Fünfprozenthürde leichter, wenn man die Anfänge der Bundesrepublik in den Blick nimmt. Im Wahlgesetz zum ersten Deutschen Bundestag, das – mangels gesetzgebender Körperschaft – noch vom Parlamentarischen Rat beschlossen wurde, war die Klausel bemerkenswerterweise nicht enthalten. Zuvor war nämlich der Antrag, im Grundgesetz eine Sperrklausel zu erlauben, nach heftiger Debatte abgelehnt worden: Der Parlamentarische Rat sah die Wahlgleichheit gefährdet. Daß die erste Bundestagswahl im August 1949 doch mit einer Fünfprozentklausel stattfand, geht auf die Ministerpräsidenten der Länder zurück, die eine Direktive der Besatzungsmächte erwirkten.
Die damalige Sperrhürde war vergleichsweise moderat: Während 1949 die Parteien nur in einem Bundesland fünf Prozent der Stimmen oder ein einziges Direktmandat zu erzielen brauchten, müssen sie seit 1953 im gesamten Bundesgebiet mindestens fünf Prozent der abgegebenen Wahlstimmen erreichen. Und im Wahlgesetz von 1956 setzte die FDP zu Lasten der noch kleineren Parteien durch, daß die Mindestzahl der sogenannten Grundmandate, die von der Sperrklausel befreien, auf drei erhöht wurde.
Soviel zur wenig bekannten, ja verschwiegenen Entstehungsgeschichte der Fünfprozentklausel. Die Sperre gegen das Vielparteiensystem ist mit der Verfassung schwerlich zu vereinbaren, wurde jedoch in Karlsruhe abgesegnet. 1952 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß eine gegen den Südschleswigschen Wählerverband, die politische Organisation der dänischen Minderheit gerichtete 7,5-Prozent- Klausel zwar verfassungswidrig sei, erklärte aber Durchbrechungen der Wahlgleichheit für zulässig.
Der Landesgesetzgeber, so das Urteil, hätte nur nicht über fünf Prozent hinausgehen dürfen. Damals waren die Sperrklauseln noch ungewohnte Elemente des deutschen Wahlrechts. Dementsprechend sorgfältig prüfte das Verfassungsgericht die Frage, ob sie überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Die Weimarer Reichsverfassung schrieb die Verhältniswahl noch vor. In Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes heißt es hingegen nur: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Dem Gesetzgeber steht es daher frei, die Weichen für das Prinzip der Mehrheitswahl oder das der Verhältniswahl zu stellen.
Bei der Mehrheitswahl erringt derjenige Kandidat den Parlamentssitz seines Wahlkreises, der die relativ meisten Stimmen auf sich vereinigen kann. Das K.o.- Prinzip der alles entscheidenden lokalen Ebene führt auf nationaler Ebene zur Polarisierung großer Parteiblöcke, so wie im britischen und US-amerikanischen Zweiparteiensystem. Bei der Verhältniswahl dagegen sollen alle Parteien entsprechend ihrer politischen Stärke im Parlament vertreten sein. Hierbei stimmt der Wähler ausdrücklich für eine politische Richtung.
Daher betonte das Verfassungsgericht 1952: „Das Ziel der Verhältniswahl in radikaler Ausprägung ist, daß das Parlament ein getreues Spiegelbild der politischen Gruppierung der Wählerschaft sein soll.“ Die Verhältniswahl ist also ausgesprochen minderheitenfreundlich. Der darin angelegte Zwang, Koalitionen auszuhandeln, muß dazu führen, daß die Interessen von Minderheiten bei der Kompromißbildung berücksichtigt werden.
Befürworter der Mehrheitswahl wenden dagegen ein, Koalitionsbündnisse erschwerten nur die Regierungsbildung, ihnen gehen sogenannte klare Verhältnisse über alles. Das Parlament hat aber bis heute keine Revision des Wahlrechts beschlossen, nicht einmal während der Großen Koalition Ende der sechziger Jahre. Aus der Entscheidung für die Verhältniswahl folgt, daß die Wahlgleichheit, die das Grundgesetz garantiert, strikt formal, das heißt proportional verwirklicht werden muß. Jede Ungleichbehandlung kleiner Parteien ist damit unvereinbar.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, eine noch so hohe Sperrklausel sei im Gegensatz zur Mehrheitswahl, für die sich der Gesetzgeber schließlich auch entscheiden könne, allemal das kleinere Übel. Im Verfassungsgerichtsurteil von 1952 heißt es treffend: „Ein Gesetzgeber, der sich für dieses System (der Verhältniswahl) entscheidet, akzeptiert damit (dessen spezielle) Gerechtigkeitsforderung und stellt sein Gesetz unter dieses Maß.“
So lautet die aus den Anfängen des Verfassungsgerichts überlieferte Argumentation. Unterdessen ging das Problembewußtsein der bundesdeutschen Gründerzeit verloren. Das Gericht verlagerte den Schwerpunkt seiner Argumentation von der Gleichheit auf deren Durchbrechung. Das entscheidende Stichwort heißt seit 1952 „besondere, zwingende Gründe“. „Zwingend“ soll es sein, „Störungen der Funktionsfähigkeit“ des Parlaments zu verhindern. Wann aber „funktioniert“ ein Parlament? Ganz einfach: Wenn es ohne größere Reibungsverluste arbeitet, weniger ausschweifend diskutiert, vielmehr ordentlich seine Hausaufgaben macht.
Denn letzter Sinn von Wahlen ist es, ein arbeits- und mehrheitsfähiges Parlament zu kreieren. Mit einer „übermäßigen Parteienzersplitterung“ sah das Gericht eine „staatspolitische Gefahr für die Demokratie“ heraufdämmern. Für diese Gefahr gibt es in der parlamentarischen Realität der Bundesrepublik bis heute keinerlei Anhaltspunkte.
Doch unbeeindruckt davon, ja geradezu empirisch blind, hält das Verfassungsgericht an seiner Doktrin von den „zwingenden“ Gründen fest – als sei nicht längst die Stabilität von Regierungsblöcken in Deutschland zum Problem geworden.
Mithin finden die als unbedenklich eingestuften Sperrklauseln nicht im Grundgesetz, sondern allein in der abstrakten Ordnungsrhetorik des Verfassungsgerichts ihre Rechtfertigung. Als ob Parlamente wie die in Italien, Israel, Dänemark oder Norwegen weniger verantwortlich arbeiten – gleichwohl dort auch sehr kleine Parteien in ihnen vertreten sind.
Die Sache wird vollends zum Skandal, wenn so hoch gegriffen wird wie in der Bundesrepublik. Volle fünf Prozent – in Schweden beispielsweise sind es nur vier Prozent – sind ein sinnfälliger Ausdruck deutscher Ordnungsliebe.
Für jene, die an der Sperrklausel vorsichtshalber festhalten wollen, weil sie zwar irgendwie für Gleichheit, vor allem aber dagegen sind, daß „Kommunisten“ oder „Faschisten“ oder „Ausländerfeinde“ oder andere Querulanten sogar im Parlament agitieren dürfen, ein Vorschlag zur Güte: Man möge die Hürde wenigstens senken – auf das europäische Mittelmaß von zwei, höchstens drei Prozent. Der Bundestag wird's schon verkraften.
Für Leute schließlich, die praktisch jedes Risiko scheuen, wäre da noch etwas garantiert Splitterfreies im Angebot. Seit Jahr und Tag liegt der Vorschlag auf dem Tisch, die wahlverzerrende Wirkung der Sperrklausel wenigstens durch eine Hilfsstimme abzuschwächen. Das liefe darauf hinaus, den WählerInnen die Chance einzuräumen, ihre Stimme für den Fall, daß die von ihnen bevorzugte Partei scheitern sollte, der Parteiliste ihrer zweiten Präferenz zugute kommen zu lassen – durch ein zusätzliches Kreuz auf dem Wahlzettel.
Doch nicht einmal diese ganz und gar bescheidene, systemimmanente Korrektur ist in Sicht; sie wurde bislang weder im Parlament erwogen noch fanden sich Verfassungsrichter, die dem Wahlgesetzgeber auf die Sprünge geholfen hätten. Dabei könnte der bundesdeutsche Parlamentarismus eine Belebung gut vertragen.
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