: Winkende Riesen
Wahlkampf für Blinde: Was sich erkennen läßt, wenn man nicht sieht und nur Walzer zu hören bekommt. Ein Erfahrungsbericht aus dem deutschen Illusionstheater ■ Von Susanne Krahe
Gestern streifte eine harte Pappe meine Wange. Sie ragte über die Breite eines Laternenpfahls hinweg, den ich normalerweise ohne Berührung passiere. „Das war Oskar!“ erklärte mir meine Mutter, die mich an allen Hindernissen vorbeiführt und darauf achtet, daß ihre blinde Tochter keine Kratzer abbekommt. Die Kollision mit Oskar konnte sie nicht verhindern, weil ihr das Plakat im Schilderwald der Straße nicht mehr aufgefallen war. „So sind sie, die Sehenden!“ grummelte ich an meiner versehrten Wange entlang. „Sehen alles und achten auf nichts.“
Wirklich böse war ich über den Zusammenstoß mit dem großen Vorsitzenden aber nicht. Politiker zum Anfassen! Wer wünscht sich das nicht? Und mich hatte sogar einer ins Gesicht gepiekt. Vielleicht brauchen wir Blinden sinnliche Begegnungen mit der realen Umwelt, um wieder einmal aus unserer hermetischen Eigenwelt herauszutaumeln. Seit gestern ist mir klar, daß unsere Stadt von Pappkameraden bevölkert wird, die auf die bevorstehende Bundestagswahl hinweisen wie die grünweißen Fahnen auf das Schützen-, die dreieckigen Trikoloren auf das italienische und die Plastikwimpelchen auf das Stadtfest. Es flattert und raschelt und summt mir um die Ohren wie auf einer Drachenwiese, damit ich bloß keinen Höhenflug verpasse.
Auf Nachfrage komplettiert meine Mutter die Vorstellung, die in meiner Phantasie zu einer Galerie aus Bilderrahmen zusammenwächst. Die Plakate tragen Köpfe, nicht Figuren. Den klugen Häuptern sind die Sprüche ihrer Partei hoch über die Stirnen geschrieben; einzeilig, kernig kurzbündig und leicht zu merken, Parolen wie Schlagstöcke. Aber als ich wissen will, welcher der Wahlspruch der Schwarzen ist und wie das Motto der roten, der gelben, der grünen Partei lautet, stellt sich heraus, daß meine Begleiterin sich die griffigen Formeln eben doch nicht gemerkt hat. Man fährt, man spaziert so vorbei, an lauter Großbuchstaben. Gerechtigkeit, Schutz der Familie und Arbeitslosigkeit fliegen ungelesen an der Windschutzscheibe vorbei. Ahnen die Wahlstrategen unserer Parteien, all jene Psychologen, Marktforscher, Farbberaterinnen und Werbefachleute eigentlich, daß sie Wahlkampf für Blinde betreiben? Wenn sie es wirklich ahnten, könnten sie sich manche feuerrote Krawatte und einige schwarze Schnörkel unter den Großbuchstaben sparen. Aber sie setzen auf das Unbewußte; auf Manipulation, die an der Achtsamkeit vorbei ins Auge geht.
Auf einer Kreuzfahrt erlebte ich einmal einen Magier. Irgendwo zwischen Amerika und den Azoren unterhielt der Zauberer die Passagiere mit undurchschaubaren Illusionen. Die Zuschauer staunten über die üblichen Wunder, die da vor ihren Augen stattfanden, schwebende Damen und Erschossene, die aus einer Pfütze Stierblut ins Leben zurückkehrten. Sie grübelten, wie so etwas sein konnte, wie etwas sein konnte, das doch nicht war. Mir machte es Spaß, die Rolle der Spielverderberin zu übernehmen. Ich hörte den suggestiven Klang der Musik und die Knallfrösche aus der Trickkiste, wie sie in einer Wolke aus deutlichem Pulvergestank explodierten. Selbstverständlich schoß der Illusionskünstler in keine Brust und seine schwebende Dame schwebte nicht. Die ganze Vorstellung beruhte auf einer Bannung der Augen, die sich bereitwillig, ja gierig betrügen ließen.
Die Strategie unserer politischen Illusionisten scheint mir nach einem ähnlich bewährten Muster ausgearbeitet zu sein. Die Königinnen des Wahlkampfs sind die Kameras. Sie nehmen nicht auf, sondern sie schneiden das Image zurecht, spitzen die Situation zur Pose zu. In der Wahlkampf-Show zeigt man sich nicht, wie man ist, sondern man wird als jemand präsentiert, der angeblich für etwas steht. Der Zuschauer soll sich ein Bild von den Kandidaten machen, so heißt es. Aber in Wirklichkeit sind alle Bilder längst fertig und werden nur wiederholt, nach immer derselben Fanfare. Da marschieren sie auf: winkende Riesen.
Ja, wir Blinden sind arrogant. Wir halten uns viel darauf zugute, nicht so anfällig für Suggestion und Verführung zu sein, wie die Sehenden. Für uns zählt der Inhalt mehr als die Form, wenn wir die roten Socken von links auf rechts drehen. Aber selbst wer die Augen vor den programmatischen Farben verschließt, bleibt doch den grellen Tönen der Wahlpropaganda ausgesetzt. Wie jede andere Revue kommt auch der Wahlkampf nicht ohne musikalische Anteile aus. Applaus schmeichelt mir da um die Ohren, Sprechchöre, die einen Vornamen rappen. Luftballons platzen zum richtigen Zeitpunkt über dem richtigen Kopf. Auf solchen gekonnt arrangierten Schallwellen segeln bereitwillig die Gedanken davon, um Gefühle und nichts als Gefühle ankern zu lassen. „Sie sehen eine Wahlwerbung der Partei XYZ“, verspricht die Anmoderation zu einem Fernsehspot, die mich aus meiner Küche vor den Fernseher lockt. Aber der Rest ist Walzer.
Zugegeben: Nicht alles ist Werbespot. Daneben gibt es die kurzen und die ausführlichen Wahlprogramme, Interviews, Rededuelle, parlamentarische Debatten und debattiertes Palaver: Theater für Fortgeschrittene sozusagen, klassische Inszenierungen mit Niveau und literarischem Anspruch. Im seriösen Nachtprogramm gehen dem Bildungsbürger die ewigen Wiederholungen als Leitmotive, die wohlüberlegten Stimmhebungen als schauspielerische Talentproben durch. Ironie, wohlproportioniert. Unflätigkeiten: klein, aber fein. Man darf es auch gepflegte Streitkultur nennen, solange man nicht den Wein vergißt. Bloß macht das gezielte Räuspern die Kandidaten fast ununterscheidbar (für Blinde).
Am Wahlsonntag werde ich meine Stimme einer Stimme geben. Ich kreuze einen Tonfall an, eine dialektische Färbung, einen Sprachfehler, einen Akzent. Stimmen sind unverwechselbar für geübte Ohren. Sie sind nicht so leicht manipulierbar wie das berühmte Pokerface. Verlegenheit und Schrecken schnüren den Hals zu, bevor das überlegene Lächeln sie überrollen kann. Keine Traurigkeit, kein Verlegenheitsschlucken und keine Verdutzung kommt an Kehlkopf, Zunge und Gaumen vorbei. Und erst die Versprecher! Irgendwann gehen sich alle gelassenen Redner selbst auf den Leim. Der Kanzler mag so viel Gewicht in die Waagschale werfen, wie er will; kurzatmige Tonlosigkeit verrät mir schon lange, wie müde er ist. Aber auch seinem jugendlich gipfelstürmenden Herausforderer blieb kürzlich beim Rednermarathon der Ton weg; seine Heiserkeit entlarvt, daß er trotz seines betonten Norddeutsch nicht an Helmut Schmidt heranreicht. Und ahnt Herr Fischer eigentlich, wie sehr sein Dauerstimmbruch ihn in stimmliche Nähe zum Pastor Hintze biegt, und wissen die beiden Unverwandten, daß sie in meinen Ohren nah verwandt sind mit Mickymaus?
Eine Unverschämtheit? Mag sein. Aber ich sagte ja schon: Wir Blinden sind – keine Zielgruppe, keine Mehrheit, aber: arrogant.
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