: Stimmabgabe mit Happening
■ Über 60 wahlberechtigte Deutsche ließen sich am Wahlsonntag von Ausländern „überzeugen“
Suveyda Ugan ist aufgeregt. Auch der Kabarettist Dr. Seltsam weiß nicht, was passieren wird. Die beiden sind eine Symbiose namens Wahlpatenschaft eingegangen. Dr. Seltsam alias Wolfgang Kröske überläßt an diesem Wahlsonntag seine Stimme der in Deutschland geborenen Türkin, die vor zwei Jahren einen Einbürgerungsantrag gestellt hat. Doch ob sie zusammen in die Kabine dürfen, wissen sie beim Betreten des Wahllokals in der Urbanstraße um 11.13 Uhr nicht. Um dies zu ermöglichen, hat Dr. Seltsam ein ärztliches Attest. „Ich habe gestern zufällig eine Sehnenscheidenentzündung bekommen“, sagt er und hält den Fotografen seine verbundene rechte Hand entgegen. Deshalb müsse die 26jährige das Kreuz für ihn machen. Der Wahlvorsteher im Wahllokal 108 greift nicht ein. „Ich bin der Wähler, kann aber nichts anfassen“, stellt sich Dr. Seltsam vor. Umstandslos bekommt Suveyda Ugan seinen Wahlzettel ausgehändigt. „Ein Kreuz kann man auch mit der linken Hand machen“, merkt eine Wahlhelferin an. Dann verschwinden die beiden in der Kabine. Nach zwei Minuten ist alles vorbei. Mit den Worten „Jetzt sollten Sie zum Arzt gehen und sich wieder gesund schreiben lassen“, verabschiedet der Wahlvorsteher die Wahlpaten.
Die Wählerinitiative für den grünen Direktkandidaten Christian Ströbele „Aktiv gegen rechts – Ströbele direkt“ hatte vor einer Woche Deutsche aufgerufen, sich bei ihrer Stimmabgabe von nicht wahlberechtigten Ausländern in der Wahlentscheidung „überzeugen“ zu lassen. Mehr als 60 Wahlpatenschaften kamen zustande.
Suveyda Ugan ist überrascht, daß alles so reibungslos über die Bühne ging. „Ich hatte Handschellen und Polizeieinsatz im Kopf.“ Genüßlich wickelt Dr. Seltsam die Binde von seiner Hand und macht sich auf dem Weg zum sonntäglichen Frühschoppen in der „Kalkscheune“.
Landeswahlleiter Günter Appel bezeichnete gestern gegenüber der taz das Vortäuschen einer körperlichen Behinderung als „geschmacklos“. Das persönliche Wahlrecht dürfe in keinem Fall delegiert werden, betonte Appel, auch nicht aus „edlem Motiv“. Wer das Ausländerwahlrecht durchsetzen wolle, müsse für entsprechende Mehrheiten kämpfen. „Wenn das Wahlergebnis durch gravierende Verstöße beeinflußt wird“, mahnte Appel, drohe bis zu fünf Jahren Haft. Bis gestern mittag hatte aber noch kein Wahlvorsteher über entsprechende Probleme bei Appel geklagt.
Im „Pasternak“ am Wasserturm im Prenzlauer Berg sitzen sechs weitere „Wahlverwandte“. Kenan K., ein 23jähriger in Berlin geborener Jurastudent, der vor anderthalb Jahren seinen Einbürgerungsantrag gestellt hat, wählt mit der Stimme eines 25jährigen Studenten. Der hat sich wegen „der Gleichstellung auf rechtlicher Ebene“ bei seiner Wahl von Kenan K. „überzeugen“ lassen. Der ist der Meinung, daß Ausländer nach einem bestimmten Aufenthaltszeitraum automatisch das Wahlrecht bekommen müßten.
Das fordert auch Gorica K., die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt und seit zehn Jahren in Berlin lebt. „Mein jugoslawischer Mann lebt seit über zwanzig Jahren hier, meine beiden Kinder wurden hier geboren“, sagt die 30jährige, „ich fühle mich wie jeder andere hier.“ Deshalb hat sie mit Begeisterung das Angebot ihrer Nachbarin angenommen, deren Wahlrecht zu gebrauchen.
„Hier zu Hause“ fühlt sich auch die 32jährige Amerikanerin Linda M., die seit zehn Jahren in Europa und seit zwei Jahren in Berlin lebt. Obwohl ihre Mutter Deutsche ist, hat sie nur eine Aufenthaltsgenehmigung. „Ich will nicht ausgeschlossen sein“, sagt die Lehrerin. Damit sie das zumindest bei der Wahl nicht ist, dafür sorgt an diesem Wahlsonntag Matthias Dittmer von der Wählerinitiative. „Solange sich das Staatsbürgerrecht nicht ändert“, sagt er, „machen wir weiter.“ Barbara Bollwahn
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