: Broker zucken die Schultern, Bosse mit den Brauen
■ Der Deutsche Aktienindex erlebt Wahlhausse, beruhigte sich aber schnell wieder auf sein Mittelmaß. Wirtschaftsverbände nörgeln an Rot-Grün. Konjunkturexperte sieht keine Änderung
Frankfurt/Main (taz) – Bundestagswahl 1998 – war da was? „Alle blicken gebannt auf Asien, Lateinamerika und die Hasardeure des Risikofonds Long-Term Capital Management in den Staaten“, konstatierte gestern ein Broker vor der Börse in Frankfurt. Und der Wahlausgang? Eventuell SPD und Grüne im Bonn am Ruder? Der Mann zuckte mit den Schultern. „Na und?“ Aus dem seit knapp acht Jahren rot-grün regierten Hessen habe schließlich auch noch kein Unternehmer in das Bayern der CSU flüchten müssen. Rot- Grün auf Bundesebene sei immerhin ein Neuanfang. Außerdem beflügelten Novitäten die Börse.
In der Tat: Der Deutsche Aktienindex (Dax) entwickelte sich am Day after schon im Computerhandel vor Eröffnung des Parketthandels prächtig und stieg um 3 Prozent auf das Tageshoch von 4.721 Punkten. Auf dem Parkett entwickelten die Händler ebenfalls rege Aktivitäten, so daß der Dax zunächst munter kletterte. Der Einbruch kam um High-noon. Gegen 12.00 Uhr war „die Wahlhausse vorbei“, wie ein Broker spöttelte. Da hatten wohl einige Händler realisiert, daß eine rot-grüne Bundesregierung den deutschen Atomkraftwerken bald die Sicherungen rausschrauben könnte. Prompt fielen die Kurse der Atomstromer von RWE, Viag und Veba um bis zu sieben Prozent, so daß der Dax am frühen Nachmittag mit rund 4.570 Punkten nur knapp über dem Eröffnungskurs lag. An der Richtung, daß es „generell nach oben“ gehe mit dem Dax, wie ein Händler der Deutschen Bank sagte, ändere das aber nichts. Die Vorgaben aus New York und Tokyo seien gut, der Dollar habe sich stabilisiert (1,68 Mark) – und immerhin sei die Mehrheit von SPD und Grünen inzwischen „satt“. Eine nur knapp Mehrheit oder eine quälend lange Suche nach Koalitionspartnern hätte für mehr Irritationen an der Börse gesorgt. Was die Börse wohl nicht akzeptiert hätte, wäre die Beteiligung der PDS. „Da hätte es heute in Frankfurt nach Crash gerochen“, glaubt er. Und die mögliche Beteiligung der PDS an einer Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern? „Wo bitte?“
Die Vertreter der deutschen Wirtschaftsverbände waren gestern nicht so locker. Sie äußerten Bedenken über den wirtschaftspolitischen Kurs des designierten Kanzlers Schröder und warben für eine Fortsetzung der Politik von Helmut Kohl. Vorrangige Aufgabe der neuen Regierung müsse eine rasche Steuer- und Rentenreform sein, erklärten übereinstimmend Spitzenvertreter der Wirtschaft. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt mahnte, wesentliche Elemente der rot-grünen Wirtschaftspolitik dürften nicht realisiert werden. Er werde versuchen, möglichst viel von den Vorhaben zu verhindern, die SPD und Grüne vor der Wahl angekündigt hätten. Grundsätzlich sei er aber zu Gesprächen mit einer rot-grünen Regierung bereit, um einen Konsens über notwendige Reformen im Steuerwesen und bei der Sozialversicherung zu erreichen.
Olaf Henkel, Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), forderte die SPD auf, die Kürzung der Lohnfortzahlung und Erleichterungen im Kündigungsschutz zurückzunehmen. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Hans Peter Stihl, warnte die SPD davor, in den Wohlfahrtsstaat zurückzufallen.
Die Werbebranche in Deutschland sieht die sich abzeichnende rot-grüne Koalition „keineswegs pessimistisch“, wie ein Sprecher des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft sagte. Die Werbewirtschaft erwartet von Schröder energischen Einsatz gegen Brüsseler Werbeverbote wie beim Tabak. „Schröder wird nur Erfolg haben, wenn Wettbewerb gefördert, dadurch neue Arbeitsplätze geschaffen und die Sozialsysteme gesichert werden“, erklärte der Zentralverband. Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sieht keine Änderungen für das Wirtschaftswachstum. „Die Abschwächung der Konjunktur ist schon länger Tatsache“, sagte der DIW-Konjukturexperte Heiner Flassbeck. kpk
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