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Der Bastler, der nur zeigen wollte

Vom Erlebnis der Zerstreuung des jüdischen Volkes und des Exils bestimmt: Das Sprengel Museum in Hannover zeigt eine Retrospektive des Malers R. B. Kitaj. Ein Amerikaner in Europa, der mit der Folklore eines Chagall nie etwas zu tun haben wollte  ■ Von Christian Semler

In einer Erdhöhle, die fast das ganze Bild einnimmt, hockt ein Mensch im Unterhemd, angestrengt lauschend, was sich an der Oberfläche tun könnte. Nichts zu hören. Am schmalen oberen Bildrand ein paar kubische Häuser, ein Kind, das, auf dem Rasen liegend, konzentriert in einem Buch liest. Wir kennen den Namen des Mannes im Versteck. Er heißt Joe Singer. Er ist auf der Flucht vor den Nazis.

Das Bild ist auf grobem Papier gemalt, in Pastellfarben, Umrisse, Gesicht und die ausgestreckte rechte Hand Joe Singers sind mit Kohle gezeichnet. Die äußerste Anspannung, die die Zeichnung dieses Gesichts und dieser Hand verrät, kontrastiert die flächige, in Grün und Gelb gehaltene, arkadisch anmutende Landschaft.

Joe Singer begegnet uns auch in einem leeren Zugabteil. Er ist adrett gekleidet, trägt Schnürstiefel, wie sie früher in Österreich üblich waren, einen Hut mit breitem Band. Er sitzt aufrecht, die Beine hat er übereinandergeschlagen, die linke Hand ans Kinn gelegt. Die Rolle am Fenster ist heruntergelassen. Wieder sind die Konturen mit Kohle gezeichnet. Das Bild, in Öl gemalt, ist fast monochrom – grau. Am rechten Bildrand, der Rückenwand des Sessels, ist ein Stück Leinwand unbemalt gelassen. Unfertigkeit wird suggeriert. Das Werk trägt den Titel „The Jew etc.“.

Joe Singer ist ein Geschöpf des Malers R. B. Kitaj. Er hat ihn in den siebziger Jahren erfunden, besser gesagt, in Gebrauch genommen, als ihm bewußt wurde, daß seine Arbeit als Maler und Zeichner von Anfang an vom Erlebnis der Zerstreuung seines, des jüdischen Volkes, vom Exil, vom „Galut“ bestimmt gewesen war. Aber Kitaj ist nie zum „jüdischen“ Maler in der abgebrauchten Manier geworden, die die Sehnsüchte des Publikums nach der untergegangenen Welt des Schtetl bedient. Mit chagallscher Folklore wollte er nie etwas zu schaffen haben. Singers Welt, daß ist die Geschichte seiner Großeltern, seines aus Wien geflüchteten Stiefvaters, des Chemikers Kitaj, dessen Namen er annahm. Es ist das Pandämonium des untergegangenen Mitteleuropa, Prag, Wien, Berlin. Und es ist die Suche des jüdischen Künstlers, nicht nach ursprünglicher Identität in der Religion, sondern nach dem, was Diaspora bedeutet.

Die außerordentliche Entwicklung R. B. Kitajs kann gegenwärtig, bis zum 22. November, in einer Ausstellung des hannoverschen Sprengel Museums nachvollzogen werden. Es handelt sich um eine Retrospektive, die bereits vorher in Oslo und Wien zu sehen gewesen war. Sie versammelt Werke vom Beginn der sechziger Jahre bis hin zu dem letzten großen Ölgemälde „Der Killer-Kritiker, erschossen von seinem eigenen Witwer“ von 1997.

Hier sieht man den alt gewordenen, bärtigen Künstler anlegen auf das lila-schwärzliche Ungeheuer, aus dessen Mund beleidigende Urteile züngeln. Am unteren Bildrand sind, teils korrigiert, Titel von Taschenbüchern abgebildet. Über der Erschießungsszene, einer Wiederaufnahme von Manets berühmter Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko, flattert ein Schriftband. Auf ihm ist zu lesen: „art is the escape to personality“. Das „to“ erstrahlt in einem kleinen Sonnenkranz. Es ist an die Stelle des durchgestrichenen „from“ getreten, und auch der Name des Erfinders der ursprünglichen Sentenz, T.S. Eliot, ist durchgekreuzt und durch „R. B. Kitaj“ ersetzt.

Mit diesem Bild hat Kitaj, der jetzt nach mehr als einem Menschenalter seine Existenz als „Amerikaner in London“ beendete und in seine Heimat, die USA, zurückkehrte, einen selbstironischen Bogen zu seinen Anfängen in den frühen sechziger Jahren beschrieben. Seit seiner ersten Ausstellung bei Marlborough Fine Art 1963 war Kitaj als Maler ebenso berühmt wie umstritten. Seine Werke galten als enigmatisch, als Rätselbilder. Halb bewundernd, halb abschätzig warf man ihm vor, sie mit kunstgeschichtlichem Ballast überladen, mit einem Wust von Anspielungen philosophischer und literarischer Art verdorben und außerdem die Betrachter in das Korsett seiner Kommentare gezwungen zu haben.

Tatsächlich hat Kitaj in dieser ersten Arbeitsperiode in seine Bilder erklärende Texte collagiert, so eine Seite aus Paul Fröhlichs Biographie Rosa Luxemburgs in seinem schwarz-geheimnisvollen „The murder of Rosa Luxemburg“, das leider in Hannover nicht zu sehen war. Dafür sind andere bekannte Werke dieser Periode ausgestellt wie „Kennst Du das Land“ von 1962, wo, in einer Schneelandschaft, Soldaten der Spanischen Republik einen Frontabschnitt gegen die Truppen Francos verteidigen.

Auf dem Bild sind, in ironischer Anspielung auf das Gedicht Goethes, Zitronen in Granatenform zu sehen, in einem der ausgesparten Räume am oberen Bildrand ist eine der Prostituierten Goyas abgebildet – Schrecken des Krieges.

In den sechziger und frühen siebziger Jahren wandelt sich Kitajs Idee des Bildaufbaus. An die Stelle disparater Elemente, die sich wie im Traum zu Schreckbildern verdichten, tritt eine klare Komposition. Das bedeutendste Bild dieser zweiten Periode, vielleicht das bekannteste Werk Kitajs überhaupt, ist „The Autumn of Central Paris (after Walter Benjamin)“ von 1972–73. Man sieht Benjamin (er trägt die Züge eines amerikanischen Dramatikers) in einem Café unter einem Schirm, eine Ballustrade mit zerbrochenen Scheiben zu seiner Linken, unten zieht, gemalt im Stil der russischen Plakatkunst, ein einen Pickel schwingender Mann vorbei. Kitaj hat in Benjamin nicht den revolutionären Theoretiker, sondern eine künstlerisch verwandte Seele gesehen; den Bastler, der „nur zeigen wollte“, den Allegoriker, der sich einer allzu raschen Deutung verweigert, vor allem aber: den Diasporisten, den Mann auf der Flucht. Walter Benjamin weist den Weg zu Joe Singer.

Kitajs Kunst hat sich stets gegen Zuordnung gesträubt. In ihrer expressiven Farbigkeit, im Rhythmus des Bildaufbaus ist er, der lebenslang gegenständlich malte, dem abstrakten Expressionismus verwandt. Seine schockartigen Kombinationen, seine Collagen weisen in Richtung Max Ernsts und der Surrealisten. In den sechziger Jahren hat er sich, als Spiritus rector der Ausstellung „The human clay“, Francis Bacon und Lucian Freud zur Seite gestellt. Nicht stilistische Ähnlichkeiten waren dabei für ihn wichtig, sondern die Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und was ihm in diesem Jahrhundert widerfuhr.

Er selbst hat sich stets sein ganz privates Pantheon gebaut, mit Cézanne als Malerfürsten und Degas als Meisterzeichner. Kitajs bedeutendster Interpret, Marco Livingstone, hat einmal ein Wort des Malers Frank Stella herangezogen, um die Gegenposition zu Kitaj zu markieren. Es lautet: „In meinem Werk sieht man, was man sieht.“ In Kitajs Welt hingegen muß man eindringen. Man sieht, was man versteht.

R. B. Kitaj: „An American in Europe“. Bis zum 22. November im Sprengel Museum Hannover. Der Katalog umfaßt 236 Seiten und kostet 35 Mark.

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