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Verkettung von Chance und Risiko

Seit 18 Jahren verfolgt ein Hamburger Wissenschaftlerteam die Bildungskarrieren von Schulabgängern. Jezt liegen die ersten Ergebnisse der Langzeitstudie vor  ■ Von Eva Wolfangel

Paul hat Ende der Siebziger seinen Realschulabschluß gemacht, danach eine Ausbildung zum Buchhändler. Als er mit der Ausbildung fertig war, wurde er nicht übernommen, jobbte einige Monate als Kioskverkäufer und holte schließlich sein Abitur an der Abendschule nach. Mittlerweile studiert er Jura.

Julia hingegen hat 1979 das Gymnasium abgeschlossen und, nachdem sie zwei Jahre als Zeitungsausträgerin gejobbt hat, endlich den ersehnten Studienplatz in Journalistik bekommen. Nach Abschluß ihres Studiums arbeitete sie einige Zeit als freie Schreiberin, nebenbei fuhr sie Taxi. Dann bekam sie eine feste Stelle in einer Fachzeitschrift für Wassersportarten. Mittlerweile hat sie geheiratet, und seit ihr Sohn vor fünf Jahren geboren wurde, ist sie – vorübergehend – aus dem Berufsleben ausgestiegen.

Julia und Paul wären typische „Samples“, wie sie Harry Friebel und Heinrich Eskamp in einer europaweit einmaligen Langzeitstudie untersuchen. Die beiden Soziologieprofessoren an der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) in Hamburg befragen seit 18 Jahren 252 damalige SchulabgängerInnen von Gymnasien, Haupt- und Realschulen der Hansestadt nach ihren Bildungskarrieren. In regelmäßigen Abständen bekommen diese „Samples“ Fragebögen zugeschickt. Und sie werden in Intensiv-Interviews befragt. Die beiden Professoren und ihr Team werten die Angaben aus und stellen sie mit gesamtgesellschaftlichen Risiken und Chancen in Zusammenhang, um verallgemeinerbare Schlußfolgerungen zu ziehen.

Den mittlerweile durchschnittlich 35jährigen Befragten ist gemein, daß sie alle von der Bildungsexpansion profitiert haben. Während beispielsweise 8 Prozent ihrer Eltern Abitur hatten, haben 26 Prozent der Untersuchten einen Gymnasialabschluß, bei der neuesten Umfrage im letzten Jahr hatten weitere 21 Prozent angesichts der Ausbildungsplatz-Knappheit ihr Abitur nachgemacht. Über zwei Drittel der Kinder der Samples sollen Abitur machen, so zumindest wünschen es sich die Eltern. „Inflationierung“ nennt Friebel diese Entwicklung: Immer größere Teile der Bevölkerung machen Abitur, dadurch wird das Reifezeugnis immer weniger wert. Hatte ein katholisches Arbeitermädchen vom Lande vor 30 Jahren keine Chance, das Abitur zu machen, so sei heute „jeder zur Bildung verdammt“, kritisiert Friebel.

Symptomatisch für die jüngeren Generationen sei außerdem, daß sie zu „Planungsbüros ihrer Bildungsbiographie“ werden. Im Vergleich zu früher entscheiden sie viel selbstbestimmter über ihre Bildung. „Dramatisch daran ist, daß die Chance, daß der Plan aufgeht, äußerst gering ist“, sagt Friebel. Das wiederum führe zu einem „enormen Mobilitätseffekt“, möglichst viel Bildung wird zum Hoffnungsträger und letztlich zur Voraussetzung. Für viele Ausbildungen, für die noch vor fünf Jahren die mittlere Reife völlig genügt habe, werde nun das Abitur verlangt.

„Eine Verkettung aus Chancen und Risiken“, so charakterisieren die WissenschaftlerInnen die Situation, die sich daraus ergibt. Die Chance auf mehr Bildung, als vorherige Generationen je hatten, steht dem Risiko entgegen, daß sich bei Beginn einer Ausbildung kaum vorhersagen läßt, wie sich die Marktsituation nach ihrem Abschluß entwickelt hat.

Um auf solche „Modernisierungsprobleme“ zu reagieren, sei das Bildungssystem „zu traditionell verfaßt“, kritisiert Friebel, so habe die Hälfte seiner Samples bereits Arbeitslosigkeit erfahren und sei darauf nicht vorbereitet gewesen. Eine Schule heutzutage könne „nicht nur Latein und Griechisch unterrichten“, sondern müsse auch auf „praktische Probleme“ eingehen. Friebel empfiehlt deshalb, das Unterrichtsfach Arbeitslosigkeit einzuführen.

Stefanie Montag, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Projekt, weist auf die „speziellen Wege der Frauen“ hin. So wird in der Studie die Frage gestellt, inwiefern soziale Herkunft und Geschlecht eine Rolle für den Bildungsweg spielen. Nach wie vor eignen sich Bildung „die ohnehin Gebildeten“ an, so Friebel. Eine Frau zu sein an sich ist nicht mehr per se ein Hinderungsgrund, die gleiche Bildung zu bekommen wie Männer.

Die WissenschaftlerInnen erkennen dabei durchaus das „Geschlecht als prozessuale Benachteiligung“. So haben ihre Forschungen gezeigt, daß an Mädchen und Jungen in der Schule zwar die gleichen Erwartungen gestellt werden. Während diese bei Mädchen aber eher reduziert werden, wenn sie sie nicht erfüllen, wird bei Jungen nicht so schnell aufgegeben; so müssen zum Beispiel viel mehr Jungen eine Klasse wiederholen, die sie nicht geschafft haben.

Viele der befragten Frauen der Studie sind gerade aus dem Berufsleben ausgestiegen, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Falls sie in ein paar Jahren wieder arbeiten wollen, erwartet Montag eine „Entwertung ihrer berufsfachlichen Qualifikation“, schließlich geht die Bildungsinflation in der Zeit weiter. Die nächste Frage der Forschung müßte deshalb lauten: „Wie funktioniert der Wiedereinstieg?“ Ob das weiterverfolgt werden kann, steht allerdings noch in den Sternen, da die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die aufwendige Studie im 18. Jahr ausgelaufen ist.

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