: Seid eure eigenen Clubs!
Trendy auf jeden Fall, selbstreflexiv manchmal: Das Gießener Institut für Theaterwissenschaft macht als Schule Theater und will als Theater Schule machen. Beim 15. diskurs-Festival reflektierte es seine eigene, spiralig gewundene Performance-Geschichte ■ Von Eva Behrendt
Wenn an Universitäten Theaterfestivals stattfinden, so ist das in der Regel ein interner Spaß. Er zirkuliert zwischen Veranstaltern und Eingeladenen und zieht bestenfalls lokale Kreise. Zwar trifft das auch für das Gießener Institut für angewandte Theaterwissenschaft (ATW) zu, das in dieser Woche zum 15. Mal den diskurs veranstaltete. Und doch ist in Gießen vieles anders.
Anders ist beispielsweise, daß sich dieses Studentenfestival eine eigene „Retrospektive“ leistet und sich trotz der Widersprüche in den eigenen Reihen letztlich als stilprägend erfährt. „Gießener Schule“ heißt die Vokabel, die während des Festivals zur Debatte stand und durch Gespräche, Aufführungen und Programmbuchessays geisterte. Eine Art Selbstfeier? Vielleicht mit gutem Grund. Autoren wie Tim Staffel, Moritz Rinke und René Pollesch, Regisseure wie Hans-Werner Kroesinger und Stefan Pucher, Performance-Gruppen wie Showcase Beat Le Mot, Gob Squad und She She Pop – bis auf Staffel und Pucher tauchten alle beim diskurs auf – besetzen im deutschen Kultur- und Theaterbetrieb zwar verschiedene Orte, haben jedoch eines gemeinsam: Ihre Arbeiten gelten sowohl innerhalb der etablierten als auch der freien Szene als experimentell oder „fresh“. Und alle haben in Gießen studiert.
Anders ist auch das „praxologische“ Modell, nach dem in Gießen ausgebildet wird. Seit der Instituts- gründung vor 16 Jahren wird dort eine Mixtur aus Theater-, Kunst- und Medientheorie gelehrt, die – oft mit Hilfestellung von Künstlern wie Robert Wilson, George Tabori oder Richard Schechner – experimentell auf der Bühne „angewandt“ wird. Theater als Schauspiel interessiert allenfalls marginal, stärker bewegen sich die Gießener Übungen an den Schnittstellen von Performance, Installation, Medienkunst, choreographischem Theater und fragmentierter Vortragsarbeit.
Vielleicht nicht anders, in jedem Fall aber besonders ist schließlich der behäbige, bürgerliche Pragmatismus, den die hessische Universitätsstadt ausdünstet. Er scheint sich als zunächst erschütternder, später stimulierender Alptraum für jene 20 bis 25 auserwählten Studierenden zu erweisen, die alljährlich im Herbst hierherkommen, um sich für mindestens vier Jahre der Theaterkunst zu verschreiben. Was tun, wenn die Umwelt feindlich gesonnen scheint? Zusammenrücken – das Institut mit Probebühne und Partyflur wird zur Wahlheimat der Community.
Obwohl nun die Rede von der „neuen“ oder auch nur „Gießener Schule“ mehrfach dementiert oder als feuilletonistische Kolportage abgetan wurde, kehrte sie unerbittlich in den diskurs-Diskurs zurück. Aber auch nach Vorträgen von Andrzej Wirth, dem Gründer der ATW, und der derzeitigen Leiterin Helga Finter konnten sich alte, neue und neueste Gießener bloß darauf einigen, daß „Gießen“ sich inzwischen als „Qualitäts-Label“ etabliert habe. Das also schon.
diskurs – das riecht nach documenta. Diese Assoziation bestätigt sich im theoretisch und künstlerisch exklusiven Anspruch des ATW-Festivals: Im Programm sind die traditionellen Genres abgeschafft. Eine ironische Selbstverclubbung schwingt in den Projektnamen mit, ob nun bei der britischen Max Factory oder den Ex- Gießenern lilies laboratory. Trotzdem bleibt das studentische Publikum aufmerksam wie im Stadttheater. Das mag daran liegen, daß es die Theorie hinter der „Anwendung“ sucht. Ob man richtig getippt hat und ob ein Versuch sich ästhetisch trägt, wird nachmittags in „diskurssionen“ verhandelt.
Die dort gärende Rede von „Selbstreferentialität“ und autobiographischem Gesplitter hatte sich schon am Eröffnungsabend metaphorisch bei den „Wagner- Feigl-Festspielen“ im Gießener Brauhaus erfüllt. Otmar Wagner (Artist in residence im Berliner Podewil) und Florian Feigl (Mitglied von Showcase) beantworteten in der Bier-Produktionshalle – umgeben von leise rülpsendem Gerät – in einem Diavortrag die Frage „Warum wir so gute Performances machen“. Zu Schwarzweißaufnahmen von historischen Performances (Flaatz, Fritsch, Beuys etc.) ließ Feigl eigenes Blut fließen, während Wagner Vogelfedern mit Sicherheitsnadeln im Wadenfleisch befestigte, um anschließend per Kopfstand das technische Procedere bei der Performance „stürzender Ikarus“ zu verdeutlichen. Verständlich, daß Wagner sich im Vortrag über all die Nachahmer im Performancebereich entrüstete: diesen Job hat er sich selber zugedacht.
Vergleichsweise Klassisches zeigte Savier Klaro Duo aus Mainz. Die Gießen-Senioren Sabine Felker und Jürgen Waldmann, sichtlich verliebt in französische Verschiebungen à la „différa(e)nce“, häuften für ihren Performance-Vortrag „the va(e)ry same“ die Produktpalette eines gutsortierten Elektrofachgeschäftes auf die begehbare Bühne, um das Publikum durch Variationen medialer Überforderung zu lotsen. Das Oberthema Mensch und Maschine zerfaserte mitsamt den visuellen und akustischen Eindrücken – wohl plangemäß – in pseudogeordnete Abschweifungen und zahllose Unterunterpunkte – Rezeptionsschwerstarbeit.
Zugänglicher, aber keinesfalls banaler gab sich Samtmann, eine Form asketischen Dokumentartheaters. Im roséfarbenen Bieder- Interieur des Dachcafés, einem Hochhausrestaurant mit Aussicht, bewegen sich Nicola Unger (Noch- Studentin) und Regina Wenig somnambul mit einem Minimum an Hilfsmitteln, fast nur mit im Raum vorgefundenem Material oder den eigenen Stimmen spielend. Vogeltirilieren, Elfengezwitscher und heiserer Baß modulieren Texte, die Unger und Wenig aus Interviews und Gesprächen an Gießener Würstchenbuden, in der Kinderkrippe und mit der städtischen Straßenreinigung transkribiert haben.
Die Reduktion auf Wortklang und Satzmelodie enthebt die hessischen O-Töne dem dokumentarischen Kontext und führt sie geradewegs ins Spiritistische; umgekehrt verklärt die „lokale Anbindung“ für Momente jene Stadt, die da drunten kalt und häßlich im Dunkeln liegt.
Produktionen zwischen angestrengter Intellektualität und selbstironischem Experiment und dazu die vielbeschworene Selbstreflexivität, in deren Spirale das Festival bierselig munter trudelte – trendy ist das in jedem Fall. Frage und Behauptung verflossen ineinander, sicherten den Fortgang des endlosen Gesprächs und womöglich sogar den einer Gießener Identität.
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