: Mit Erfindungen gegen die große Einsamkeit
Wenn die anderen alles zu wissen glauben: Leonhard Koppelmanns Inszenierung von „Angriffe auf Anne“ im TiK sollte noch stärker auf die Imagination des Publikums setzen ■ Von Christiane Kühl
Solipsismus ist die erkenntnistheoretische Auffassung, daß ich und meine Bewußtseinszustände die einzigen Größen sind, die wirklich erkannt werden können. Alles, was außerhalb meiner Erfahrung und damit meines Bewußtseins liegt, sind problematische Größen. Der andere: zwangsläufig ein Problem. Ob er existiert außerhalb meines Kopfes, kann mein Kopf nicht entscheiden. Und nie wird er wissen, was der andere Kopf erfährt.
Im praktischen Leben liegt das Problem eher im Gegenteil. Jeder weiß stets alles, vor allem, wer die anderen sind, und das zumeist besser als die anderen selbst. Unfähig, metaphysische Einsamkeit zu ertragen, erfinden wir uns eine Welt, ein Raster und Figuren, die man darin hin- und herschieben kann. Anne ist eine von ihnen. Attempts on Her Life heißt Martin Crimps jüngstes Stück, und die Doppeldeutigkeit des Originaltitels zeigt sein Spannungsfeld: Versuche über Anne werden da unternommen, die gleichzeitig Angriffe auf Anne sind. Menschen reden über eine Frau, beschreiben sie, beschuldigen sie, verteidigen sie, erklären sie, erfinden ihre Biographie und konstruieren eine Person, hinter der Anne – wenn sie denn existiert – verschwinden muß.
Leonhard Koppelmann hat das Stück des 42jährigen Engländers mit fünf SchauspielerInnen im TiK inszeniert. Es ist ein ungewöhnlicher Text für das Staatstheater: nicht, weil die Titelperson abwesend ist, sondern weil er weder eine lineare Handlung noch Figuren hat. Das Skript dieser „17 Szenarien für das Theater“ ist ein fragmentierter Fließtext mit Gedankenstrichen, die Sprecherwechsel andeuten; die Anzahl der Sprecher oder gar wer welche Zeile spricht, hat der Autor nicht festgelegt. Es gibt Darsteller, keine Charaktere; Biographien sind immer eine Erfindung des Zuschauers.
Leider hat sich Koppelmann nicht immer auf die Autonomie des Textes verlassen. So gibt es zwischendurch eine liebe feige Mittelklassenmama, den Du-kriegst-keinen-Pfennig-mehr-von-uns-Vater, den abgefuckten Pornoregisseur und andere überzogene Figuren, deren Hysterie dem Publikum klar macht, daß man ihren Versionen von Anne nicht glauben darf. Spannender wäre es, sie alle ernst zu nehmen, so daß der Akt der vermessenen Identitätskonstruktion von Anne nicht auf der Bühne, sondern im Kopf des Betrachters geahndet werden müßte.
Fünf Videomonitore mit wechselnden Fernsehbildern stehen am Rand des Zuschauerraums, in den Kaspar Glarner seine schlichte schwarze Holz- und Metallgerüstbühne hineingebaut hat. Im Wechsel von mikrophonverstärkten und unverstärkten Aussagen, Revueszenen, folkigem Gitarrenspiel, einer kunstanalytischen Sequenz und der mittlerweile fast obligatorischen Dilettantenchoreographie entsteht eine interessante Multifokus-Aufführung, die anzuschauen auf jeden Fall lohnt. Um wirklich zu überzeugen, fehlt ihr aber etwas, was man vom Theater eigentlich gar nicht verlangen darf: Privatheit. Wenn alles, was der Mensch hat, seine eigene Biographie ist, müssen die Darsteller ein Stück davon auf die Bühne tragen.
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