Demokratie als chinesische Bürgerpflicht

In Chinas Städten haben die Bürger keine demokratischen Rechte, doch in Einwohnerkomitees legen sie sich demokratische Pflichten auf und schaffen sich so Mitspracherechte gegenüber den Behörden  ■ Aus Peking Georg Blume

Chinas Kommunisten sind selber schuld. Erst vor einem Jahr sprach Partei- und Staatschef Jiang Zemin in Washington von der Demokratie als Voraussetzung für die Modernisierung Chinas. Im gleichen Tenor bekannte sich der neue Premier Zhu Rongji im März grundsätzlich zu demokratischen Wahlen. Kein Wunder also, wenn die pseudodemokratischen Abstimmungsrituale der Vergangenheit zunehmend durchschaut werden. Die Leute beginnen, ihre Führer beim Wort zu nehmen.

Zum Beispiel Gao Hongming: Der arbeitslose Angestellte hat seine Kandidatur zum Pekinger Volkskongreß erklärt. „Das ist mein Recht und meine Pflicht“, sagt der Regimegegner, der 1994 zu zwei Jahren „Umerziehung“ verurteilt wurde. Das hält ihn heute nicht davon ab, das demokratische Prozedere bei den anstehenden Pekinger Lokalwahlen zu testen. Bisher wurden die Kandidaten für den lokalen Volkskongreß entweder von der Arbeitseinheit oder dem Straßenkomitee, der niedrigsten Regierungsbehörde, nominiert. Doch so steht es nicht im Gesetz. „Wir werden die Gelegenheit nutzen, der Opposition ein Gesicht zu geben“, verspricht Gao.

Die Kandidatur des Dissidenten hat kaum Erfolgschancen. Wahlleiter Zhang Xuming rief in dieser Woche acht Millionen Pekinger zur Registrierung für die Wahlen Ende des Jahres auf. Gewählt werden 5.000 Delegierte zum lokalen Volkskongreß, von denen 70 Prozent der KP angehören. Bisher sind die lokalen Volkskongresse nur Aushängeschilder der Parteidiktatur: Nur einmal im Jahr versammeln sich die Delegierten, um per Handzeichen die sich in zwölf Monaten anstauenden Vorschriften volksdemokratisch abzusegnen. Dabei geht es um öffentliche Sicherheit, Kontrolle der Zuwanderung aus anderen Regionen, Müllabfuhr und Hundesteuer – Themen, die den Bürger konkret betreffen. Von einem demokratischen Mitspracherecht kann bisher keine Rede sein.

Nicht zuletzt deshalb konzentrieren sich engagierte Bürger in den Städten auf die sogenannten „Einwohnerkomitees“. Sie stehehn unterhalb des lokalen Volkskongresses und der Straßenkomitees und sind laut Verfassung „selbstverwaltete Massenorganisationen“. Dabei wecken die Einwohnerkomitees schlechte Erinnerungen. Vor allem in der Kulturrevolution, als jeder jeden verdächtigte, vom Kurs des Großen Vorsitzenden abgekommen zu sein, dienten sie als Foren gegenseitiger Anklage. Heute aber sind viele froh, wenn sie ein gut funktionierendes Einwohnerkomitee haben.

Es ist diese unterste Ebene öffentlicher Selbstverwaltung, die sich als Nachbarschaftshilfe bezeichnen läßt, wo schon heute von Demokratie in China die Rede sein kann. Die Wahl des Vorsitzenden eines städtischen Einwohnerkomitees entspricht der in einigen Regionen praktizierten Wahl ländlicher Dorfbürgermeister, was der Regierung viel Lob aus dem Ausland eingebracht hat. Doch diese demokratischen Strukturen sind bisher kein Teil des politischen Systems. Dorfbürgermeister und Vorsitzende der Einwohnerkomitees können zwar viel für ihre Nachbarschaft tun, aber haben trotz ihrer unangefochtenen Wahl durch das Volk keine eigenen Machtbefugnisse gegenüber den von der Partei besetzten Behörden. Im Chaos der Reformpolitik können aber mehrere gut funktionierende Einwohnerkomitees leicht das Vakuum eines desolaten Straßenkomitees füllen. Oder es entstehen Mieter- und Eigentümerkomitees, wie sie die neue Gesetzgebung vorsieht, die Betonkomplexe über die Behörden hinweg direkt in Abstimmung mit dem Pekinger Rathaus verwalten.