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Auf nach Sibirien!

■ Berlin als Drehscheibe von Sowjet-Dromologie und Citizen-Diplomacy

Man schätzt, daß 120.000 Russen in Berlin leben, und es werden immer mehr. Schon entsteht eine soziokulturelle Infrastruktur. Allein in Marzahn wohnen 12.000 Rußlanddeutsche. Daneben gibt es noch etwa 10.000 Sowjetbürger jüdischen Glaubens. Sie ziehen Deutschland sogar Israel vor, denn dort ist inzwischen „die Stimmung „eindeutig antirussisch“, wie die Basler Jüdische Zeitung schrieb. Aber auch umgekehrt gibt es eine kleine Bevölkerungsbewegung mit eigenen Propagandisten: „Der Marsch zu neuem Wohlstand wird weit, der Weg steinig sein. Aber bange machen gilt nicht. Auf also nach Sibirien – ohne Zaudern, ohne Angst“, schrieb z.B. die Woche. Der Berliner Slawist Karl Schlögel setzte später in der FAZ noch einen drauf: „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft.“

In Berlin könnte man auf den Gedanken kommen, die makropolitisch gescheiterten Bolschewiki hätten die UdSSR ausgereift, und nun würden ihre Samen über die ganze Welt verstreut, auf daß kommunistische Landschaften daraus entstehen. Die Sowjetunion hat ihre Bevölkerung für das Leben in der postfaschistischen Emigration perfekt vorbereitet: indem sie aus Arbeitern und Bauern scharfgebildete Weltbürger machte, die zudem prima aussehen, guterzogen und meist hochmusikalisch sind. Wenn in Israel ein Russe aus einem Flugzeug steigt und keinen Geigenkasten unterm Arm trägt, vermutet man sofort: „Das muß ein Pianist sein!“ Und dann verstehen sie natürlich auch, den weltweiten Zwang zu überholt-nationalkapitalistischen „Identitäten“ gekonnt zu parieren: mit aller Papier- und Stempelmagie bestens vertraut.

Nach den vielen Evakuierungen, Umsiedlungen, Neulandkampagnen und Großbaustellenwechseln sind Zuwanderungsbeschränkungen geradezu Peanuts für Sowjetbürger. Ein behutsamer Umgang mit „Andersdenkenden“ ist ihnen gleichsam zweite Natur geworden. Ihre angeblich entartete Sowjetbürokratie hat ihnen auch noch das Wichtigste mit auf den Weg gegeben: einen ausgefuchsten Umgang mit Behördenvertretern! Das muß man mal mitangesehen haben, wie diese Ukrainer, Moldawier, Armenier, Georgier – fast immer Frauen – mit unseren Amtshengsten umspringen: Topangezogen, nicht selten mit eigens dafür geliehenen Klamotten (der sogenannten „Sozi- Stola“), ausgeschlafen und mit endloser Geduld. Dazu mit einem phantastischen Lächeln bewaffnet und aufs melodischste die weichen russisch-ukrainischen Konsonanten um harte, sozusagen kerndeutsche Vokale schlingend (was für sich schon eine komplette Umdrehung der dort sonst gängigen Täter-Opfer-Verhandlungen bedeutet). Am Schluß füllt der Amtsinhaber das Formular selbst aus, verspricht, es sofort zu bearbeiten und macht sich insgeheim Hoffnung, die Bittstellerin irgendwann ins Bolschoi-Theater begleiten zu dürfen. Es gibt in Berlin Devisenhotel-Discotheken, wo sogar abstoßendste FDP- und CDU-Wortführer noch reihenweise unter die sowjetische Haube kommen. Aber auch mein anarchistisch-atheistischer Freund Franz, der unlängst aus Gefälligkeit eine kesse Tscherkessin heiratete, die er einmal im Jahr zum Papiere-Unterschreiben trifft, trat neulich sogar zum Islam über, nur weil sie ihren kranken Vater zu Hause besuchen wollte und ihm nicht als mit einem Ungläubigen verheiratete Tochter unter die Augen treten mochte.

Dann heiratete eine erfolgreiche Künstlerin pro forma einen schönen, aber lauten Jung- Rüpel aus Leningrad. Und bloß weil der in ihrer Szene hier immer wieder unangenehm auffiel, kaufte sie ihm ein „Penthouse“ in St. Petersburg. Einer alleinerziehenden Kiewerin gelang es, aus einem Pankower Architekten für jedes Befummeln im Whirlpool einen Tausender rauszuleiern. Ihre Eltern wohnen schon in einem Landhaus, das er ihnen entwarf.

Umgekehrt schaffte es hier eine Schriftstellerin, mit einem Moskauer Kollegen zusammen vier teure Reisen zu unternehmen, die vom Aufbau-Verlag vorfinanziert wurden. Nachdem ihr deutsch-russisches Beziehungsbuch unter dem therapeutischen Titel „Fluss“* erschienen war, schrieb eine Spiegel- Journalistin, die selber inzwischen an der ukrainischen Grenze ein kleines Gestüt nebst Reitknecht besitzt: „Es ist die Vergangenheit, die den Reisefrieden störte.“ Einmal verpaßte er ihr sogar „,ein paar Ohrfeigen, allerdings nur mit der flachen Hand‘. Beruhigend.“

Ein alter Möbelhändler aus Ostberlin und ein noch älterer Speditionsunternehmer aus Magdeburg wollten nach Weißrußland expandieren. Beide finanzierten ihren flotten Dolmetscherinnen dort erst einmal eine Ausbildung hier als „Managerin“ und verliebten sich Hals über Kopf in sie. In dem Durcheinander ihrer Beziehungen gingen daraufhin beider Geschäfte pleite. Andersherum zog es einen jungen „Banker“ aus Bad Soden partout nach Nowosibirsk, wo das „GUS-Fräuleinwunder“ ihn sofort derart pekuniär packte, daß er sich immer mehr in gewagte Ölgeschäfte verwickeln ließ. Jetzt muß er schon wöchentlich 2.000 Dollar allein für seinen Personenschutz abdrücken.

Man könnte Hunderte solcher „Fälle“ aufzählen. Ich will es genug sein lassen. „Stalin ist kein Klassiker mehr“, da hat Walter Ulbricht wohl recht gehabt. Doch den Bolschewismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf. Das steht fest. Helmut Höge

*Viktor Jerofejew, Gabriele Riedle: „Fluss“. Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 287 S., 39,90 DM

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