Kaderschmiede der modernen Choreographie

Die Tanzfabrik Berlin ist das erfolgreichste Modell für ein in Eigeninitiative aufgebautes Zentrum für zeitgenössischen Tanz in Deutschland. Mit dem eigenen Mythos können die Produktionen oft nur schwer konkurrieren, Grund zu feiern gibt es allemal: zwanzig Jahre Tanzfabrik  ■ Von Katrin Bettina Müller

Zwanzig Jahre, das ist die Hälfte meines Lebens“, stellt Dieter Heitkamp fest, der als Tänzer und Choreograph fast von Anfang an dabei war und mit Claudia Feest vom ursprünglichen Team übrigblieb. Von einer Enttäuschung darüber, nicht mehr zu den begehrten Szenestars zu gehören, ist bei ihm nichts zu spüren. „Wenn ich zurückdenke, was vor zwanzig Jahren alles gefehlt hat, dann war die Entwicklung klasse.“

Denn am Anfang gab es gar nichts. Die Gründer der Tanzfabrik, Christine Vilardo und Reinhard Krätzig, tingelten mit ihren Kursen noch durch die Stadt, bevor sie in der Kreuzberger Möckernstraße die Räume einer ehemaligen Lampenfabrik mit Studio und Wohngemeinschaft enterten. Vilardo, die in den USA bei einem Assistenten der legendären Choreographin Mary Wigman gelernt hatte, brachte den in Deutschland fast erloschenen Funken des Ausdruckstanzes in einer transformierten Form zurück. Sie traf sich mit dem Berliner Sportstudenten Krätzig in dem gemeinsamen Bedürfnis, eine reflektierende Form der Bewegung zu finden.

„Eigentlich war die Tanzfabrik immer ein Ort der deutsch-amerikanischen Freundschaft“, erzählt Dieter, denn „ohne die amerikanische Mentalität, einfach mal zu machen“, wäre nie die nötige Antriebskraft zusammengekommen. Aus den USA stammten auch die neuen Umgehensweisen mit dem Körper, die Tanztechniken für Laien zugänglich machten und Bewegungsfindungen veränderten. Vor allem die Contact-Improvisation, die nicht mehr von äußeren Formen, sondern vom Fluß der Energie und Durchlässigkeit des Körpers ausgeht, wurde wichtig als ein Bindemittel, das ausgebildete Tänzer, Sport- und Biologiestudenten, Selbsterfahrungshungrige und Therapiebewegte eine Ebene der Auseinandersetzung finden ließ.

Anfang der achtziger Jahre brachte fast jedes Stück der Tanzfabrik etwas Neues hervor. In „Looping“ und „Windeier“ erzählten Heitkamp und Jacalyn Carley von Familienbeziehungen und Emanzipationsversuchen mit einem Bewegungswitz, der aus alltäglicher Erfahrung verständlich war. Das Körpergedächtnis selbst war zur Quelle der Geschichten geworden. Carleys Choreographien zu Schwitters Ursonate, zum Geburtstagstagebuch von Gertrude Stein und Gedichten von Ernst Jandl sensibilisierten für die sprachähnliche Struktur und Syntax von Bewegungen. Heitkamps „Whodidwhattowhom“, wie ein Film in einminütige Sequenzen zerschnitten, lebte von einem Vorgriff auf das Zeitalter des Zappens und Surfens. Im „Sieg der Körperfreuden“ rechneten die Ex-Sportstudenten mit der Konditionierung und Anpassung des Menschen in den sportlichen Ritualen ab.

Mit Geschlechtszuschreibungen und Rollenklischees setzte sich die Tanztheater-Fraktion von Sabine Lemke, Heidrun Vielhauer und Sygun Schenk auseinander. In keiner anderen Kunstform wurde die Erkenntnis, wie sehr auch die leibliche Identität ein Produkt sozialer Normen ist, so begreifbar auf den Punkt gebracht. Das räumte dem Tanz einen neuen Status in einem kritischen Kulturverständnis ein.

Auf eine wiedererkennbare Handschrift ließ sich die Tanzfabrik damals nicht festlegen; zu groß war die Lust am Experiment, zu heterogen der kollektive Pool der Ideen. Nicht immer entgingen sie dabei der Überstrapazierung von Bedeutung. Die Kluft zwischen Körper und Geist war oft nicht so leicht zu überwinden, wie die mit philosophischen Floskeln jonglierenden Programmhefte glauben machten. Das Bedürfnis aber, Bewegungen und choreographische Strukturen aus aktuellen Befindlichkeiten zu entwickeln, blieb stets nachvollziehbar.

Ende der achtziger Jahre verlangsamte sich das Tempo der alternativen Erfolgsstory. Bis 1989 waren die Mittel der jährlichen Projektförderung durch den Senat zwar auf 412.280 Mark angestiegen, aber der Erhalt der aufgebauten Infrastruktur verschlang immer mehr. Zudem brachte das breite Spektrum der künstlerischen Ansätze auch ein Bündel an eigenen Ansprüchen hervor. „Zwischen 1988 und 1991, da hatten wir fast sowas wie ein Ensemble, was wir aber nicht durchhalten konnten. Mit der Wende wurde klar, es gibt eher weniger Geld, und wir wurden immer mehr Choreographen, die eigene Stücke machen wollten. Wir konnten auch das Management und die gute Infrastruktur, die André Theriault und Gisela Göttmann aufgebaut hatten, nicht weiterbezahlen. An dem Punkt stand eigentlich die Frage der Institutionalisierung an“, resümiert Dieter und räumt gleich ein, daß die Umstrukturierung nicht nur an kulturpolitischer Schwerfälligkeit scheiterte, sondern auch an der Dynamik des Kollektivs.

„Wir haben uns ein, zwei Jahre lang selbst blockiert, bevor wir von den kollektiven Strukturen weg sind“, beschreibt er den schweren Abschied. „Nach siebzehn Jahren war es für uns wichtig, eine Lösung zu finden und nicht nur das Ganze in die Luft zu sprengen.“ Claudia Feest, die das Modell Tanzfabrik von Anfang an mitgetragen hatte, wurde alleinige künstlerische Leiterin. Jacalyn Carley verließ die Tanzfabrik und gründete eine eigene Company „JC & Co Moving Wor(l)ds“, mit der sie nun wieder über die Bühnen der Off-Szene tourt.

Zur Zeit setzt die Tanzfabrik auf eine Förderung als Proben- und Produktionsort. Ein Ergebnis dieses veränderten Selbstverständnis ist die Reihe „Tanz im Studio1“, in der sich junge Choreographen vorstellen. Geprobt hat in ihren Studios auch schon die erfolgreiche Solistin Anna Huber. So kommen die Mittel der Tanzfabrik, die seit 1992 eine Optionsförderung erhält, nicht nur den eigenen Projekten zugute.

Gearbeitet wird auch an der eigenen Weiterbildung. Zusammen mit ähnlich strukturierten Schulen in Lissabon, Wien, Paris und Budapest hat die Tanzfabrik ein „European network for contemporary dance“ gegründet, das Austauschprogramme für Choreographen und Lehrer auf den Weg bringt. So nimmt in der mittelbaren Zukunftsplanung die Schule, an deren Kursen bis zu 500 Schüler teilnehmen, wieder einen großen Stellenwert ein.

Unterricht war für die Tanzfabrikler jedoch nie nur ökonomische Basis. Die Hoffnung, daß sich die Grenzen von Erfahrung und Bewußtsein immer noch etwas verschieben lassen, beflügelte auch die pädagogischen Ziele. In Workshops mit Studenten aus Dresden oder von der Kunsthochschule Berlin-Weißensee interessierte den Lehrer Heitkamp, wie man Interaktionen zwischen Musikern und Tänzern stimulieren oder in Improvisationen choreographisches Material gewinnen kann. Seine Berufung als Gastprofessor an die Hochschule für Musik in Frankfurt am Main bedeutet eine Anerkennung seiner Ausbildungskonzepte. Das war nicht immer so. Noch 1989 wurden seine Ideen auf einem Symposion von den Ballettschulleitern ausgebuht. „Da spielen immer noch Hierarchien und Diziplin eine Rolle; was ich forderte, war zu auflösend.“

Wenn sich auch für die Tanzfabrik nie eine Weiche gestellt hat wie für Sasha Waltz, die demnächst an die Schaubühne zieht, so hat sie doch die Durchlässigkeit der Strukturen zwischen freier Szene und etablierten Berliner Häusern mitgeprägt. Helge Musial und Dieter Heitkamp haben an der Staatsoper Unter den Linden choreographiert, Jacalyn Carley mit Tänzern der Komischen Oper gearbeitet. Doch entscheidender als diese nicht immer gelungenen Projekte war der Druck, den das von der Off-Szene für den Tanz geköderte Publikum auf die Ballettensembles ausübte, sich mit den gegenwärtigen Formen des Tanzes auseinanderzusetzen.

Wichtiger als den Erfolg scheint der passionierte Körperforscher Heitkamp noch immer die Recherche zu nehmen. Wenn er von seinem neuen Stück „Iosis“ redet, spürt man gleich wieder die geballte Assoziationskraft, die Tanz in seinen Stücken oft mit Bildwelten, Künstlerbiographien und sozialen Modellen verbunden hat. Einen Ausgangspunkt bildet die Farbe Rot: Heitkamp erzählt von Derek Jarmans Buch über die Farben „Chroma“ und dem im Krankenhaus geschriebenen Kapitel über das „Rotsehen“. Die Technik des Body-Mind-Centering, die aus einem medizinisch-therapeutischen Kontext stammt und von Lehrern der Tanzfabrik aus den USA nach Deutschland gebracht wurde, hilft dabei mit sprachlichen Bildern tiefer in den Körper hineinzuspüren und die Kommunikation zwischen innen und und außen bewußter wahrzunehmen. Selbst die inneren Organe beginnen in Heitkamps Rede zu tanzen, wie die „Herzen, die um Achsen rotieren“. Nach den Flugbildern durch das Blau von Yves Klein in einer früheren Produktion ist nun die Landung in einem roten und erdigen Milieu geplant. Beeindruckend ist die Konsequenz, mit der sich jedes Stück aus den Erfahrungen des Vorhergegangen entwickelt; der Zuschauer allerdings wird in diesem Gespinst aus inneren roten Fäden oft vergessen.