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Menschenwürde gilt jetzt auch im Knast

Mit einer Strafrechtsreform will Polens Regierung die Zustände in den Gefängnissen verbessern. Doch vor allem für Resozialisierungsprogramme fehlen Mittel. Über die Hälfte der Gefangenen wird rückfällig  ■ Aus Krakau Gabriele Lesser

Zwanzig Minuten muß er hängen. Das sehen die Regeln so vor.“ Stanislaw Duda, Chirurg im berüchtigten Untersuchungsgefängnis Montelupich in Krakau, erinnert sich an das letzte Mal, als sei es gestern gewesen. „Im April 1988 war das. Ich habe ihn noch untersucht. Schließlich können wir doch keine Kranken hinrichten.“ Die Todeszelle gibt es heute nicht mehr, der Henker hat die weißen Handschuhe, mit denen er die Schlinge um den Hals des 28jährigen Mörders legte, nie mehr angezogen.

Die Todesstrafe aber hat Polen erst im September dieses Jahres offiziell abgeschafft. Die Strafrechtsreform beendet die fast 50jährige Ära von Folter, überfüllten Gefängnissen und Tausenden von Todesurteilen in Polen. „Die Zeiten ändern sich“, zuckt der Arzt die Schultern, „mal sind die Strafen schärfer, mal milder. Darüber entscheidet die politische Konjunktur.“ Das neue Strafrecht liberalisiere die Bestimmungen aus der Zeit der Volksrepublik. „Die eigentliche Revolution im Strafvollzug hat es aber bereits 1989/90 gegeben. Seither behandeln wir die Häftlinge hier wie Menschen“, erklärt Duda trocken. „Das wirkt sich direkt auf meine Arbeit aus.“

Aus dem Nebenzimmer holt er mehrere Holzschatullen und Pinnwände mit verbogenen Nägeln, rostigen Haken, Drähten, Rasierklingen und zerfressenem Besteck. „Darin besteht meine Hauptaufgabe: Ich operiere aus Luftröhren, Mägen und Därmen Fremdkörper heraus, mit denen die Häftlinge sich selbst verletzen. Die Zahl der Operationen ist seit 1990 von rund 200 im Jahr auf jetzt zehn bis zwölf jährlich gesunken.“ Seit der Pfarrer jeden Tag ins Gefängnis komme, sei die Situation entspannter. „Die Häftlinge haben jemanden, mit dem sie sich unterhalten können und der auch mal draußen bei der Familie vorbeischauen kann. Die größte Tragödie für den Häftling ist doch, wenn sich nach der Tat die Familie lossagt von dem Sohn, dem Ehemann oder Vater. Dann bleiben oft nur Wut und Verzweiflung.“

In der psychiatrischen Abteilung des Gefängniskrankenhauses schlurfen die Häftlinge in Filzpantoffeln und gestreiften Pyjamas durch die Gänge. Die Gittertüren der Zellen sind nur angelehnt, die Metalltüren davor stehen offen. Der Blick durch die vergitterten Fenster in den Innenhof des Gefängnisses trifft auf Mauern, Gitter, Stacheldraht und wieder Mauern. Dr. Barbara Piltz, die Häftlinge aus ganz Südpolen psychiatrisch untersucht, bestätigt den Trend: „Die Häftlinge sind heute weniger aggressiv als noch vor ein paar Jahren. Die Selbstmordrate geht ebenso zurück wie die Zahl der Selbstverstümmelungen. Aber die Zustände sind noch immer deprimierend.“

Bis zu zwölf Männer teilen sich eine Zelle. Es riecht nach kaltem Schweiß, abgestandenem Zigarettenrauch und Kohlsuppe. Von den Wänden platzt der Putz in großen Placken, an den Decken breitet sich gelb-grüner Schimmel aus. Waschbecken und Toiletten sind erst seit einigen Jahren mit einer Metallwand umgeben und von außen durch die Luke in der Zellentür nicht mehr einsehbar. Der Lärm ist ohrenbetäubend: Türen krachen ins Schloß, Schlüssel knirschen, Stiefel knallen, das Gefängnisradio plärrt, der Essenwagen scheppert durch die Gänge.

Knapp 60.000 Häftlinge sitzen zur Zeit in polnischen Gefängnissen. 14.000 von ihnen warten auf ihren Prozeß oder das endgültige Urteil. Frauen und Ausländer sind mit je rund 1.000 in der absoluten Minderzahl. Für Frauen mit Kindern gibt es nur ein Gefängnis in ganz Polen. Über 100 der 86 Strafanstalten und 70 Untersuchungsgefängnisse sind einem offiziellen Regierungsbericht zufolge dringend sanierungsbedürftig. Einige Gefängnisse, in denen statt Toiletten Eimer in den Zellen stehen, sollen geschlossen werden.

Doch im Budget des Justizministeriums sinken die Mittel für den Strafvollzug seit Jahren. Für Resozialisierungsprogramme fehlt das Geld ebenso wie für Bewährungshelfer, die den ehemaligen Häftlingen auf dem Weg zurück in die Gesellschaft helfen. Die Folge: über 60 Prozent aller Straftäter in Polen werden rückfällig. Das neue Strafrecht wie auch die neuen Regelungen im Strafvollzug sollen das ändern. Durch häufigere Freigänge in der letzten Phase der Strafverbüßung soll die Rückfallquote gesenkt werden. Das „normale Leben in Freiheit“ soll nach 10 oder 15 Jahren im Gefängnis kein Schock mehr sein.

Yves Goulais ist Franzose. Der Doppelmörder hat bereits die Hälfte seiner Strafe abgesessen. Um den einstigen Medienliebling war es in den letzten sieben Jahren still geworden. Das Publikum hatte den Theaterregisseur, der seine Frau und seinen besten Freund in flagranti erwischt und wenige Tage später erschossen hatte, vergessen, kaum daß die Gefängnistore sich hinter ihm geschlossen hatten. Wie überrascht war das Fernsehteam, das im Winter letzten Jahres eine Reportage in der Strafanstalt in Nowa Huta drehen wollte, als es dort bereits ein Fernsehteam vorfand. Gedreht wurde ein Spielfilm. Regisseur war Yves Goulais. Schauspieler, Komparsen, Beleuchter, Techniker, Kostüm- und Maskenbildner stellten die Häftlinge und Aufseher der Strafanstalt.

Nach Nowa Huta in den halboffenen Vollzug kommen nur die „leichteren Fälle“ und diejenigen, die bereits einen großen Teil ihrer Strafe abgesessen und sich „bewährt“ haben. Zwar leben die Strafgefangenen auch hier hinter hohen Mauern, auf denen Stacheldraht gespannt ist, doch die Zellentüren stehen tagsüber offen. Die Häftlinge bewegen sich völlig frei auf dem ganzen Gelände. Hinter einem schwarzen Eisenzaun sind die Frauen untergebracht. Von Zeit zu Zeit dürfen sie auf die Männerseite, um gemeinsam Volleyball zu spielen oder einfach nur, um sich zu unterhalten.

„Alleinsein im Gefängnis ist ein Luxus“, erklärt Yves Goulais und lädt in seine Einzelzelle ein. Hinter dem mit Büchern und Papieren überladenen Schreibtisch steht das Bett, daneben hat gerade noch ein Hocker Platz, auf dem sich ein Mini-Fernseher und ein Videorecorder ducken. Geschickt dreht sich der 38jährige zwischen Schreibtisch, Bett und Hocker, setzt sich aufs Bett und schiebt die Videokassette ein. „Der Film ist nicht perfekt“, warnt er vorsichtshalber, und dann beginnt eine Gefängnisklamotte im besten Chaplin-Stil. Fünf Monate lang haben siebzig Häftlinge, die Aufseher und Erzieher an dem Film gearbeitet. Am Ende konnte er sogar auf dem Kurzfilmfestival in Krakau gezeigt werden.

„Häftlinge wie Yves Goulais gibt es viel zu wenige in unseren Gefängnissen. Ohne ihn hätte es den Film nie gegeben, die Atmosphäre hier hat sich seitdem sehr verbessert. Es haben alle mitgemacht, jeder hatte eine wichtige Rolle oder Aufgabe. Viele hatten zum ersten Mal das Gefühl, daß sie etwas wert sind.“ Der Pressesprecher der Strafanstalt Nowa Huta zieht den Videofilm „Odyssee auf der Pritsche“ aus dem Schublade: „270 Kassetten gibt es, und die Häftlinge wollten, daß die Einnahmen aus dem Verkauf einem Krakauer Waisenheim zugute kommen.“ Er ist überzeugt, daß die Dreharbeiten bei klirrender Kälte längst nicht soviel Elan und Begeisterung ausgelöst hätten, wenn die Idee vom Gefängnisdirektor oder einem der Erzieher gekommen wäre. „Der Film hat hier alle zusammengeschweißt. Es war ein ehrliches Stück Arbeit. Alle sind stolz darauf.“

Das größte Problem für die Erzieher bestehe darin, die Gefangenen wieder auf das Leben in Freiheit vorzubereiten. „Es gibt keine Arbeit. Fast alle unsere Häftlinge sind arbeitslos, dabei dürften sie längst tagsüber das Gefängnis verlassen. So aber ...“ Pressesprecher Leszek Kozdra läßt die Arme hängen. „Wenn sie dann endlich freikommen, haben sie keinen Groschen in der Tasche, die Frau hat sich scheiden lassen, es gibt keine Wohnung, keine Arbeit.“ Ein großer Teil der entlassenen Häftlinge landet so über kurz oder lang im Odachlosenheim oder eben wieder in der Szene und schließlich erneut im Gefängnis.

Auf der Krakauer Flaniermeile Florianstraße bedrängen ein paar besonders „rechtschaffene“ Bürger jeden einzelnen Passanten. Sie sollen unterschreiben: „Ich bin für die Todesstrafe.“ Die meisten setzten ihren Namen darunter. Das neue Strafrecht ist gerade drei Wochen in Kraft. Die konservative Tageszeitung Zycie (Das Leben) schürt bereits seit Monaten die Angst vor Mördern und Sexualverbrechern, die sich über die neuen milden Strafen freuen würden.

In einer Serie lobt die Zeitung das kommunistische Strafgesetzbuch von 1969 für die drakonischen Strafen. Von Folter und sadistischen Praktiken im Gefängnis ist nicht die Rede. Sie sind erst jetzt ausdrücklich verboten. Kein Wort auch verliert die Zeitung über die verbesserte Rechtsstellung der Opfer. Sie können sich nun sowohl vor Beginn des eigentlichen Strafprozesses mit dem Täter über eine Entschädigung oder Wiedergutmachung einigen, diese Frage aber auch im Strafprozeß vom Richter entscheiden lassen. Die Chance, nicht erst nach einem weiteren Prozeß vor dem Zivilgericht und damit oft Jahre nach der Tat eine Entschädigung zu erhalten, steigt unter der neuen Regelung erheblich.

„Wenn ich etwas gutmachen könnte, würde ich das gerne tun. Aber wenn man die beiden Menschen ermordet, die man am meisten liebt und schätzt, dann kann man das nicht mehr gutmachen.“ Yves Goulais hat seine Krakauer Wohnung den beiden Opferfamilien übereignet. „Ich weiß, was ich getan habe. Und ich wußte es auch damals. Die Todesstrafe hätte mich nicht von meiner Tat abgehalten. Ich bin schuldig. Und ich werde es immer sein.“

Goulais deutet auf das schwere Eisentor neben dem Wachturm: „Wenn ich einst da durchgehe, wenn ich wieder frei bin, werde ich das Gefängnis doch nie verlassen. Die Gitter haben sich in mein Herz gebrannt. Ich bin ein ewiger Gefangener, mein Gefangener.“

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