: Jagdszenen aus Nordchina
■ In dieser Woche gastiert eine „Original Pekingoper“ in der Glocke und zeigt eindrucksvoll, warum es diese für China relativ junge Kunstform auch in hundert Jahren noch geben wird / Ein vorauseilender Aufführungsbericht
Die linke Hand ist ausgestreckt. Der Daumen ist nach innen geneigt und berührt mit der Kuppe das erste Glied des Mittelfingers. Der kleine Finger ist ganz leicht abgespreizt. Okay? Fertig? Dann zeigt die linke Hand eine Geste der weiblichen Darstellerin Dan, die in China von vielen als Ausdruck von Unsicherheit gelesen und verstanden wird. Dan nämlich ist eine von vier Rollen-Gruppen in der Pekingoper, und die Unsicherheit verratende Hand ist eine von „nur“ 50 Gesten aus ihrem und dem Repertoire der drei weiteren Rollentypen Sheng, Jing und Chou. Am 29. und 30. Oktober wird eine Dan-Darstellerin sechs Jahre nach dem Gastspiel eines Ensembles aus Schanghai in der Bremer Glocke ihre Unsicherheit ausdrücken. Denn die „Original Peking Opera“ gastiert im Verlauf ihrer ersten Europa-Tournee in der Hansestadt, und ein Besuch wird mit Sicherheit ein Erlebnis.
Paderborn, Paderhalle. Niemand weiß, warum die Peking Opera, die im Gegensatz zu anderen tatsächlich ein Original ist, hier ihre Tournee beginnt. Das Ensemble war zwar schon in Ulm zu Gast, doch einen viermonatigen Marathon mit 75 Vorstellungen in fünf europäischen Ländern bringt es zum ersten Mal hinter sich. Deshalb ist auch Qu Ping, der junge, wie ein Filmschauspieler aussehende Sonderbotschafter des Kulturamtes Peking aus Berlin nach Paderborn gekommen. Er ist gut gelaunt, obwohl Parkett und Rang der Halle am Flüßchen Pader nur zur Hälfte gefüllt sind. Er spricht von „Kulturaustausch“, und er erwähnt ungefragt und lobend Chen Kaiges 1993 entstandenden, später in China verbotenen Pekingoper-Film „Lebewohl meine Konkubine“.
Theater wird in China mindestens genauso lange gespielt wie in Europa. Doch die Pekingoper selbst ist noch relativ jung. Als in Frankreich nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gerufen wurde, lud ein chinesischer Kaiser Theatergruppen in die Hauptstadt. In dieser Zeit vor und nach der Wende zum 19. Jahrhundert entstand aus Lokaltraditionen und den Kunstformen (Kopfstimmen-) Gesang, von Percussion dominierter Musik, Schauspiel, Pantomime, Tanz, Akrobatik und Schminken das, was heute als Pekingoper gilt.
Die Geschichten basieren meist auf jahrhundertealten Sagen, Romanzen oder auf parabelhaften Königsdramen. Es geht um unerlaubte Liebschaften, Mut und Gerechtigkeit. Moralisch-erzieherisches ist so häufig wie gewollt, das Happy- End unvermeidlich. Nachdem die chinesischen Kommunisten zunächst auch in der Pekingoper die „richtige“ Klasse siegen ließen und diese Kunstform während der Kulturrevolution ganz verboten, werden die tradierten Geschichten heute wieder gepflegt, gelernt und auf die Bühne gebracht. Auch die Schulen gibt es wieder, in denen schon achtjährige Kinder – neben Jungs längst auch Mädchen – auf ihre späteren Rollen vorbereitet werden. „Die Schauspieler kennen sich so, als wären sie Geschwister – wie im Film ,Konkubine'“, sagt Herr Qu. Doch er ergänzt, daß es nicht mehr so brutal zugehe wie in der Pekingoper-Schule aus Chens Film. Könnerschaft und bisweilen auch Besessenheit sind aber geblieben.
So wie bei Luo Changde. Eben noch waren er und die KünstlerInnen Ding Guiling, Li Hongbin oder He Zhili in farbenprächtigen Kostümen und zum Teil bis zur völligen Verwandlung geschminkt auf der Bühne zu sehen. Jetzt, nach Ende der Vorstellung stehen sie da im Foyer der Paderhalle, tragen Klamotten von Benetton und Nike und sehen wie ganz normale GroßstädterInnen um die 30 aus. „Ja, wir haben als Acht- oder Neunjährige angefangen“, werden ihre Antworten übersetzt. „Wenn ich selbst ins Theater gehe, dann gehe ich in die Pekingoper“, sagt einer, und die anderen nicken. Schließlich will man ja sehen, was die Konkurrenz macht. Ob er glaubt, daß es die Pekingoper in hundert Jahren noch geben wird? „Ja“, ist sich Qu Ping vom Kulturamt ganz sicher, obwohl er bestimmt auch mit europäischer Oper oder modernem Tanztheater etwas anfangen kann. Doch wenn man sieht, was die „Original Peking Opera“ auf die Bühne der Paderhalle und bald auch der Bremer Glocke zaubert, möchte man ihm glauben.
Das Theater hat sich nicht für eine episch-lange, bis zu sieben Stunden dauernde Oper entschieden, die sich die ChinesInnen, Tee trinkend, Snacks essend und Kommentare beisteuernd, anzusehen pflegen. Stattdessen wurde ein Programm aus vier Opern ausgewählt, das mit pantomimisch gespielten Geschichten und vielen Kampfszenen auch in Europa verstanden werden kann. Auf eine Obertitelanlage wird bewußt verzichtet. Das würde nur ablenken, sagt einer der Schauspieler. Trotzdem hatten er und seine KollegInnen Angst, ein für das deutsche Publikum zu exotisches Theater zu spielen. Doch beim ersten, übrigens erwünschten Szenenapplaus sei diese Sorge verflogen, sagen sie hinterher.
Vor einem traditionell einfachen Bühnenbild zeigt das Ensemble Ausschnitte aus den Klassikern „Affenkönig“, „Das Rasthaus an der Weggabelung“ sowie aus zwei anderen Pekingopern. Mit der wunderbaren Leichtigkeit, die erst nach jahrelangem Training erreichbar ist, pantomimen-spielt ein Paar ein schaukelndes Schiff auf die Bühne. Ein anderer verwandelt sich bis hin zur Gestik mit Augen und Unterlippe so virtuos in den Affenkönig, daß man glaubt, tatsächlich solch ein Tier zu sehen. Wieder andere kämpfen – bei natürlich hell erleuchteter Bühne – im Stockdunklen einen chaplinesken Kampf. Immer treibt die Musik das aktionsbetonte Spiel voran. Der schon bei Stille ertaunliche Reichtum an komischen, grazilen und dramatischen Gesten wirkt so noch facettenreicher. Trotz einiger Längen im dritten Stück ist ein Besuch dieser Pekingoper unbedingt empfehlenswert. Auf den hinteren Plätzen der Glocke werden allerdings die ganz feinen Gesten nur mit dem Opernglas erkennbar sein. ck
„Original Peking Opera“ am 29. und 30. Oktober um 20 Uhr in der Glocke. Die Musikwissenschaftlerin Yamei Leng hält am Dienstag, 27. Oktober, um 19 Uhr in der kleinen Glocke einen Vortrag über die Pekingoper.
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