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Chiles Gesellschaft bleibt gespalten

Die Verhaftung des ehemaligen Diktators Pinochet in London polarisiert die innenpolitischen Lager. Beide sorgen sich um den Fortbestand der Demokratie – wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen  ■ Aus Santiago Ariel Hauptmeier

Im „barrio alto“, der reichen Oberstadt von Santiago, mit schattigen Villen und postmodernen Wolkenkratzern, demonstriert an diesem Samstag die politische Rechte für die „Wiederherstellung von Chiles Würde“. Versammelt sind die US-amerikanisch geprägte Oberschicht, Gewinner der neoliberalen Modernisierung unter dem ehemaligen Diktator General Augusto Pinochet, Angehörige des Militärs und die Jeunesse dorée. Die Demonstranten, viele um die 50 Jahre alt, schwenken chilenische Flaggen und Pinochet-Bilder, singen die Nationalhymne und pfeifen einen Redner aus, der den Einsatz der Regierung für den in London verhafteten General lobt. „Ich bin für die Anwendung des Völkerrechts, aber warum wird Fidel Castro dann nicht verhaftet?“ erregt sich der Anwalt José Weitzman. Sein Bruder Rodrigo glaubt an eine internationale Verschwörung der Linken: „Der spanische Richter Garzón ist Sozialist, nur deshalb hat er die Festnahme angeordnet.“ Die Rentnerin Maria Soto Delaveau schließlich ist der festen Überzeugung, daß Chile Anfang der siebziger Jahre unter dem demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende Freiheit und Demokratie verloren habe, „doch der General Pinochet hat sie uns zurückgegeben“.

Einen Tag später feiert die chilenische Linke im „barrio medio“, der armen Mittelstadt Santiagos, wo die Häuser klein, bunt und baufällig sind, ein „Fest der Gerechtigkeit“. Die Demonstranten sind jünger, ärmer, indianisch geprägt. Sie schwenken Fahnen mit den Konterfeis von Che Guevara, Allende oder Victor Jara, dem Sänger, dem Soldaten 1973 nach Pinochets Militärputsch erst die Hände abhackten, ehe sie ihn töteten. „Wir werden euch niemals vergessen“, geloben Spruchbänder. Kleine, verwitterte, rundliche Frauen haben sich hochkopierte Paßfotos ihrer verschwundenen Söhne und Männer an die Strickjacken geheftet, auf der Bühne spielt eine Gruppe, das Volk tanzt, singt und ruft die alte Parole von damals, „el pueblo unido, jamás será vencido“ – das vereinte Volk wird niemals besiegt werden. „Wir sind sehr, sehr glücklich“, sagt Lautaro Carmona vom Politbüro der Kommunistischen Partei hinter der Bühne. „Jetzt muß sich die reaktionäre Rechte entblößen, inwieweit sie die demokratischen Institutionen respektiert, die sie selbst geschaffen hat.“

Zehn Tage ist es jetzt her, seit Pinochet, der das Land von 1973 bis 1990 diktatorisch regierte, verhaftet wurde. Dieses Ereignis hat die tiefe Spaltung der chilenischen Gesellschaft bloßgelegt. Das ganze Land diskutiert über die Zukunft der Demokratie.

Auch die bürgerliche Mitte des Landes ist gespalten. Rechte Politiker warnen, daß „transición“, der friedliche Übergang zur Demokratie, in Gefahr sei, wenn Pinochet verurteilt werde. Sie verweisen darauf, daß der Übergang vom Militärregime zur Demokratie 1990 unter der Bedingung stattgefunden habe, daß Pinochet nicht angetastet werde.

Davon will die Linke nichts wissen. Das Volk, der Souverän, habe keine Möglichkeit gehabt, über die künftige Rolle Pinochets – der dank seines Senatorenamts auf Lebenszeit Immunität genießt – mitzubestimmen. Sie sieht die Demokratie in Gefahr, wenn Pinochet nicht vor Gericht gestellt wird. Auf das Argument der Rechten, Pinochets Festnahme verletze die Souveränität Chiles, kontert die Linke, Chiles Souveränität sei 17 Jahre lang unter Pinochet mit den Füßen getreten worden.

Die Spaltung der Gesellschaft reicht bis in die Regierung und die christlich-demokratische Partei von Präsident Eduardo Frei. Mehrere heutige Minister hatten unter Pinochet das Land verlassen und sahen sich vergangene Woche plötzlich genötigt, für die Freilassung des Diktators einzutreten. Frei hängte das Thema vom ersten Tag an so hoch wie möglich und machte eine Staatsaffäre daraus, auch, um die Aufregung in den chilenischen Kasernen relativ niedrig zu halten. Wiederholt erklärten führende Militärs, daß sie mit seiner Politik bislang einverstanden seien. Doch an der christdemokratischen Basis rumort es, und führende Repräsentanten geben die Zurückhaltung, die ihnen in den ersten Tagen von der Parteispitze auferlegt worden war, zunehmend auf.

„Die Regierung hat zwei große Fehler gemacht“, sagt Jorge Lavandero, Senator der Christdemokraten, der auf der Demonstration am Sonntag als Redner auftrat. „Sie hat einem international gesuchten Verbrecher, der verantwortlich ist für den Tod von spanischen und französischen Priestern, einen Diplomatenpaß ausgestellt. Und sie hat sich in Angelegenheiten der internationalen Justiz eingemischt.“ Mit der Unterstützung für Pinochet würden die Christdemokraten ihre Wähler betrügen, so Lavandero.

Heute trifft sich in Santiago ein Bündnis aller linken und bürgerlichen Parteien. Es strebt ein Plebiszit zur Änderung der Verfassung an. Bislang garantiert sie im Senat eine Mehrheit der Rechten, und da alle neuen Gesetze den Senat passieren müssen, ist eine grundlegende Änderung der chilenischen Politik unmöglich. Vor allem die Wirtschaftspolitik ist vielen Mitgliedern des regierenden Mitte- links-Bündnisses ein Dorn im Auge. Seit 1989 ist Chiles Wirtschaft jedes Jahr um rund sieben Prozent gewachsen, doch der allergrößte Teil davon floß in die Hände der Oberschicht. „Die Reichen sind heute doppelt so reich wie vor zehn Jahren, zwei Drittel der Bevölkerung sind genauso arm wie am Ende von Pinochets Diktatur“, sagt Axel Rivas vom „Bündnis für nationale Würde“. In der sozialen Spaltung liege der Keim für einen künftigen Bürgerkrieg.

An den Universitäten des Landes werden die politischen Debatten heftiger. Auch jene Teile der chilenischen Jugend, die bislang eher als unpolitisch galten, sehen sich gezwungen, Position zu beziehen. „Die Art, wie Pinochet an die Regierung kam, war vielleicht nicht korrekt“, sagt Francisco Lamilla, „aber dem Land ging es danach viel besser.“ Er ist 20 Jahre alt, trägt lange Haare und einen Ziegenbart und studiert an einer privaten Universität. Seinem Vater – er ist Ingenieur – fällt es nicht schwer, die Studiengebühr von 300 Dollar pro Monat zu bezahlen, und sein Großvater hat ihm erzählt, daß man in den siebziger Jahren für Brot und Fleisch anstehen mußte. Francisco ist für die sofortige Freilassung des Generals. Chile dürfe nicht weiter gedemütigt werden. „Die Europäer nehmen uns nicht für voll. Die Verhaftung von Pinochet ist eine Form von Kolonialismus.“

Italo Franzani ist zwei Jahre älter als Francisco, trägt ebenfalls einen Ziegenbart und studiert Journalismus. „Die Verhaftung Pinochets ist auf jeden Fall ein Fortschritt. Jetzt sehen alle hier im Land, mit welchem Abscheu die ganze Welt Pinochet betrachtet.“ Franciscos Vater verlor als Kommunist 1973 seine Professorenstelle an der Universität und hat heute ein Geschäft; die Studiengebühren kriege man gerade so zusammen. Fragt man Francisco nach Chiles Vergangenheit, dann erzählt er von Folter, Vertreibung, Tod. „Endlich gibt es Gerechtigkeit“, ist seine Schlußfolgerung.

„Ich habe Angst“, sagt Natalia Pereira, 18 Jahre alt, die ebenfalls gegen Pinochet demonstrierte. Eine vage Angst davor, daß sich die zunehmende Polarisierung in Gewalt entlädt. Die ist nicht unbegründet: 300 Polizisten bewachen mittlerweile linke und rechte Politiker, britische und spanische Firmen und Angehörige der ehemaligen Militärregierung.

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