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Angst vor der Polygamie

Fünf Gewerkschaften wollen eine Dienstleistungsgewerkschaft werden. Die Kleinen fürchten die Großen, und viele Probleme sind noch ungelöst  ■ Aus Würzburg Bernd Siegler

„Geht doch bitte nicht mit schierer Angst und dem Willen, sich an Kuschelecken festzuhalten, in ein solches Projekt.“ Dem Vorsitzenden der IG Medien, Detlef Hensche, gehen die Vorbehalte der Delegierten des vierten Gewerkschaftstages der IG Medien in Würzburg gegen die ab 2000 geplante Fusion der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Handel, Banken und Versicherungen (HBV) und Medien (IGM) sowie der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) und der Angestelltengewerkschaft (DAG) zu einer neuen Dienstleistungsgewerkschaft sichtlich auf die Nerven. Doch bei vielen IG-Medien-Vertretern sitzt die Angst tief, als mit 185.000 Mitgliedern kleinste der Einzelgewerkschaften demnächst untergebuttert zu werden – etwa von der ÖTV, die 1,68 Millionen Mitglieder zählt.

Seit Jahren laufen die intensiven Gespräche über einen Zusammenschluß dieser ungleichen Partner zur dann mit rund 3,3 Millionen Mitgliedern größten Einzelgewerkschaft Deutschlands. Die Einzelgewerkschaften sollen dann in Fachbereiche aufgehen, wo etwa 1.000 Berufe in 18 Branchen vertreten sein sollen. Auf dem Gewerkschaftstag machte nun die IG Medien den Versuch, mit den Chefs der Einzelgewerkschaften die Chancen und Risiken einer solchen Dienstleistungsgewerkschaft zu diskutieren.

Mit Veränderungen der Arbeitswelt hin zu neuen Formen abhängiger Beschäftigung wie „Freie“, Leiharbeit oder Scheinselbständigen sowie dem Wandel bei den Betriebsformen hin zu Callcentern, Gewerbeparks oder Mischkonzernen über Branchengrenzen hinweg begründete DAG- Chef Roland Issen die Notwendigkeit dieser gewerkschaftlichen Umstrukturierung. DPG-Chef Kurt van Haaren räumte zwar ein, daß es sich bei der geplanten Fusion um „keine Liebesheirat, sondern eine Vernunftehe“ handele, es sei jedoch die einzige Chance, eine „schlagkräftige, zukunftsorientierte Gewerkschaft“ aufzubauen. Gerade in wachstumsträchtigen Bereichen wie EDV oder Logistik müsse die Gewerkschaft, so van Haaren, ihren derzeitigen „hundsmiserablen Organisationsgrad“ von weit unter zehn Prozent erhöhen. Dies sei nur mit einer veränderten Gewerkschaftsstruktur machbar. Auch IG-Medien-Chef Hensche beschwor die Delegierten, daß es zu dieser neuen Organisation „keine Alternative“ gäbe.

Herbert Mai, Vorsitzender der ÖTV, betonte zwar, daß auch seine Gewerkschaft sich verändern müsse und er dafür garantiere, daß „niemandem etwas übergestülpt werde“, doch dies beruhigte die Delegierten nicht. Vor allem weil Mai nachschob, daß alle finanziellen Angelegenheiten und die Entscheidung über Arbeitskämpfe „selbstverständlich beim Gesamtvorstand“ der neuen Riesengewerkschaft angesiedelt sein müßten.

Und viele Fragen blieben offen: Was passiert mit der reichlich gefüllten Kasse der DAG? Was wird aus der Tarifautonomie der Kommissionen der Einzelgewerkschaften? Welchen Grad der Autonomie erhalten die neuen Fachbereiche? Und dient die Fusion nicht auch dem Stellenabbau in der Gewerkschaftsarbeit?

„Die Probleme mit dieser Fusion von oben werden nicht kleiner, sondern größer“, faßte ein IG- Medien-Delegierter die Debatte zusammen. Aufgrund der vielen ungelösten Fragen ist schon vor geraumer Zeit der Sechste im Bunde ausgeschert: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wird sich an einer solchen Supergewerkschaft nicht beteiligen.

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