Auf zur dXI: Elektrische Fühler
■ Neuer documenta-Chef: Der nigerianische Schriftsteller und Kritiker Okwui Enwezor
Letztes Jahr stand er noch auf verlorenem Posten. Nachdem Okwui Enwezor als Leiter der zweiten Johannesburg- Biennale 1997 mit einem Programm angetreten war, das die Kulturgeschichte entlang der Sklavenhandelsroute aufzeigen sollte, geriet „Trade Roots“ zu einem gewaltigen Flop. Die gerade erst aus der Apartheid entlassenen Südafrikaner wollten sich nicht schon wieder mit der Jahrhunderte währenden Ausbeutung beschäftigen, die Hallen blieben leer. Irgendwann drohte der frustrierte Bürgermeister von Johannesburg sogar mit Budgetkürzung. Doch das internationale Echo war gut: „Trade Roots“ galt als politisch klarsichtiges Bekenntnis zur Politkultur.
Enwezors Interesse an globalen Gassenhauern wie Territorium und Grenzüberschreitung, Identität und Fremde ist nun auch nach Kassel vorgedrungen. Am Montag wurde der 1963 in Nigeria geborene Schriftsteller und Kunstkritiker einstimmig zum Leiter der documenta XI gewählt, der Vertrag beginnt im Juli 1999. Das ist verblüffend, nachdem zuletzt darüber diskutiert wurde, ob nicht ein Team viel besser eine solch umfängliche Ausstellung kuratieren könne. Der Entscheidung gehen allerdings Zahlen voraus: Da im vergangenen Jahr selbst bei der für ihr sprödes Kunstverständnis vielfach angefeindeten Ausstellungsmacherin Catherine David über 630.000 Besucher zur d X kamen, hat man sich auch diesmal wieder auf eine repräsentative Einzelperson geeinigt.
Stärker noch als David wird Enwezor dabei auf Interdisziplinarität setzen: In Johannesburg wurde von ihm ein „Electric Workshop“ über den differierenden Umgang mit Kommunikationstechnologien eingerichtet, weil „Themen wie die Politik des Überlebens, der sozialen Mobilität, der politischen und ökonomischen Analyse heute nicht mehr getrennt von der Kunst zu sehen sind“. Trotzdem waren in der Ausstellung nicht bloß Schautafeln und Infotische zu sehen, sondern Fotowände des Schweizers Beat Streuli oder Objekte der afroamerikanischen Konzeptkünstlerin Carrie Mae Weems – der ganz normale Kunstbetrieb eben. Enwezor, der in New York lebt und für Flash Art schreibt, hat dafür eine hübsche Metapher gefunden: „Ich bin wie ein Insekt, das seine Antennen in alle Richtungen ausstreckt.“ Früher hätte man dazu vermutlich Fühler gesagt. Harald Fricke
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