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Am liebsten würde Blair schweigen

■ Überlegungen zur Reform des britischen Wahlrechts, die heute vorgelegt werden sollen, stellen die Labour-Regierung vor ein Dilemma

Berlin (taz) – Tony Blairs neuerdings legendäre Fähigkeit, Entscheidungen hinauszuzögern, wird demnächst wieder einmal unter Beweis gestellt werden. Eine unabhängige Kommission legt heute einen Bericht zur Reform des britischen Wahlrechts vor, und die Regierung muß darauf reagieren – oder eben auch nicht.

Die sogenannte Jenkins-Kommission – benannt nach ihrem Leiter, dem früheren Labour-Außenminister und heutigem liberaldemokratischen Lord Roy Jenkins – wurde im Dezember 1997 von der Labour-Regierung beauftragt, Alternativen zum bisherigen britischen Wahlrecht zu entwerfen. Labour hatte nämlich in ihrem Wahlprogramm 1997 versprochen, vor den nächsten Wahlen eine Volksabstimmung über ein neues Wahlrecht abzuhalten. Bisher wird das britischen Unterhaus nach dem reinen Mehrheitswahlrecht auf Wahlkreisebene gewählt, vergleichbar der deutschen Erststimme. Das begünstigt große Parteien und benachteiligt kleine Parteien, besonders die etwas größeren Kleinen wie die Liberaldemokraten, die regelmäßig viele Stimmen und wenig Sitze kriegen. Mit ihrem Reformversprechen sicherte sich Labour die parlamentarische Kooperation der Liberaldemokraten, allen voran ihres Führers Paddy Ashdown, der auf sein gutes persönliches Verhältnis zu Blair setzte.

Aber je näher der Bericht der Jenkins-Kommission rückt, desto stärker hat sich bei Labour Widerstand erhoben. Das letzte Wahlergebnis macht den Grund klar: 418 gewonnene Wahlkreise von 659 sind aus Siegersicht viel schöner als 43,2 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Erhaltung des alten Wahlrechts wurde paradoxerweise auch ein Thema der Parteilinken. Eines ihrer Argumente ist der Vorteil einer direkten Beziehung zwischen Wählern und Wahlkreisabgeordneten gegenüber zentral gesteuerten Parteilisten; ein anderes die virulente Abneigung der Linken gegenüber den Liberalen. Auf dem letzten Labour-Parteitag hätte ein Antrag zur Erhaltung des Mehrheitswahlrechts vermutlich eine breite Mehrheit gefunden, wenn er nicht in letzter Minute von der Antragstellerin, der eher rechtsgerichteten Elektrikergewerkschaft, auf massiven Druck der Parteispitze hin zurückgezogen worden wäre.

Nun steht die Labour-Führung vor einem Dilemma, denn die Jenkins-Kommission wird auf jeden Fall irgendeine Reform vorschlagen. Spricht Blair sich dafür aus, verrät er die eigene Basis und stürzt möglicherweise seine Partei in die Krise. Spricht er sich dagegen aus, verrät er die liberaldemokratischen Partner und stürzt möglicherweise deren Führer Paddy Ashdown. Blair wird also voraussichtlich das tun, was er neuerdings immer tut: Er wird die Vorlage des Berichts begrüßen, zu seinem Inhalt möglichst wenig sagen und einen endlosen „Konsultationsprozeß“ ausrufen.

Nachdem schon die geplante Oberhausreform auf die lange Bank geschoben worden ist, tritt damit der einmalige Zustand ein, daß weder Oberhaus noch Unterhaus in London wissen, was die Regierung mit ihnen vorhat. Langsam aber sicher hebt Labour die britische Verfassungsstruktur sich gegenseitig in Schach haltender stabiler Institutionen aus den Angeln. Dominic Johnson

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