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Der neue Kanzler nimmt den Vordereingang

■ Kleine Gesten signalisieren den Wechsel auf der Bonner Bühne. Der Kanzler gibt sich volksnah, die FDP agiert plötzlich selbständig. Nur die Union hält verbissen an ihrem Freund-Feind-Schema fest

Bonn (taz) – Ist es nur der Herbstwind, der seit Tagen in die Bäume im Bonner Regierungsviertel fährt, oder ist es der „wind of change“, so heißt ein Lieblingslied des Kanzlers, der in der politischen Landschaft zu spüren ist? Wer sie nebeneinander sieht, von ganz nah, den alten und den neuen Bundeskanzler, das schwammige Gesicht mit den herunterhängenden Mundwinkeln, den müden Augen und den großen Tränensäcken von Helmut Kohl und den burschikosen, dynamischen Gerhard Schröder, der weiß: Ja, so mußte es einfach kommen. Aber es ist wohl mehr, als daß ein 55jähriger einen 68jährigen als Kanzler abgelöst hat. Selbst Journalisten hatten am Dienstag abend feuchte Augen, als die Minister vereidigt wurden. Was für Namen auf einmal: die der Grünen natürlich, Joschka Fischer, Jürgen Trittin, Andrea Fischer, die ihren Eltern gezeigt haben, daß man auch als Grüne etwas Vernünftiges werden kann, aber auch die Ostdeutsche Christine Bergmann und der Quereinsteiger Walter Riester. Zum ersten Mal hatte zuvor ein Bundeskanzler den Amtseid ohne die Eidesformel „So wahr mir Gott helfe“ gesprochen. Sieben Minister taten es ihm gleich. Da schüttelten sie bei der Union die Köpfe und murmelten Worte wie „unmöglich“. Es weht halt ein neuer Wind, der sich auch in den vielen Sonnenblumen ausdrückte, die das Plenum des Bundestages in ein gelbgrünes Meer verwandelten. Jeder Abgeordnete der Grünen hatte drei Sonnenblumen erhalten, um sie ihren Ministern zu überreichen. Aber auch die SPD-Minister wurden bedacht. Ausdruck des guten, häufig herzlich wirkenden Verhältnisses zwischen den neuen Koalitionären. Wie die Fraktionssprecherin der Grünen, Kerstin Müller, den neuen Kanzler nicht nur umarmte, sondern ihm geradezu in die Arme flog, wie sich der grüne Umweltminister Jürgen Trittin und Schröder kumpelhaft rüttelten und schüttelten, wirkte erfrischend ungewohnt im Parlament. Und in der Lobby hielt später die 17jährige Anna Schily, die Tochter des Innenministers, stolz die Ernennungsurkunde ihres Papas in die Kameras. Wie wohltuend solche Bilder statt der nadelgestreiften Ernsthaftigkeit der alten Koalitionsparteien. Die CDU-Abgeordneten hatten zuletzt noch einmal alles getan, um den Eindruck einer verbrauchten, verbiesterten Fraktion zu bieten. Während der Rede des Alterspräsidenten Fred Gebhardt höhnten sie und verweigerten ihm den Höflichkeitsapplaus. Als peinlich empfanden selbst viele CDU-Abgeordnete den Antrag der Union, die Ämter der Vizepräsidenten nicht mehr an die Fraktionen zu knüpfen und dadurch eine Vizepräsidentin von der PDS zu verhindern. Auch die FDP stimmte gegen den Antrag des alten Koalitionspartners. Die Gelassenheit der neuen Regierung gegenüber der PDS, auch sie setzt neue Maßstäbe.

Vielen scheint es, als könne sich die Union noch nicht von ihrem alten, durch 16 Jahre Herrschaft geprägten Umgangston trennen. Peter Hintze kommentierte gestern das SPD-PDS-Bündnis in Mecklenburg-Vorpommern mit den Worten: „Das Maß an Geschichtsvergessenheit der SPD muß jeden Demokraten empören.“ Der ehemalige Verkehrsminister Matthias Wissmann hatte den Verzicht von Jost Stollmann auf das Amt des Wirtschaftsministers als „eines der größten Täuschungsmanöver der deutschen Nachkriegspolitik“ bezeichnet. Kann es auch eine Nummer kleiner sein? Noch vor der Bekanntgabe des Ergebnisses der Kanzlerwahl verließ Wissmann das Plenum mit den Worten: „Das muß ich mir nicht antun.“

Wird die neue Regierung einen anderen Stil pflegen? Schröder hat versprochen, er wolle als Kanzler „zusammenführen und moderieren“. Nach seiner Wahl zum Kanzler überreichte er dem CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble einen seiner beiden Blumensträuße. Und wie er seit Tagen schon den scheidenden Kanzler mit Gesten und Worten zu Tränen rührt, bestätigt seinen Vorsatz. Bei der Übergabe des Kanzleramtes sagte Schröder: „In der Regierungserklärung werde ich ihn noch einmal loben, dann ist es aber genug damit.“ Dieser Kanzler kann flapsig sein, ohne respektlos zu wirken. „Ein typischer Schröder“, sagt ein Genosse, „kann typisch für die Art der Regierung werden.“ Schröder nahm gestern nicht Eingang 7 im Bundestag, sondern Eingang 2. Soll heißen: Anders als Kohl nimmt er den Vordereingang, geht engumschlungen mit Ehefrau Doris zur niedersächsischen Landesvertretung. Und mit Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye hat wieder ein Mann dieses Amt inne, der ein Ohr am Kanzler hat. Nur Signale, gewiß. Aber der Wind des Wechsels – und auch das ist ja eine Botschaft – soll sanft nur wehen. Markus Franz

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