So kuschelig, so ähnlich, so nah

Das erste rot-rote Regierungsbündnis des wiederveinigten Deutschlands steht: in Mecklenburg-Vorpommern. Und so schwer war's gar nicht. Denn im Osten stehen sich SPD und PDS näher, als sie wahrhaben wollen. Sie sprechen die gleiche Sprache und bewegen sich im selben Milieu. Schon jetzt können sie besser miteinander, als Sozis und Grüne je konnten. Die SPD- Genossen haben ihr sozialistisches Päckchen zu tragen; die SED-Erben kultivieren sozialdemokratische Volksnähe. Ein Lagebericht  ■ von Heike Haarhof

Im Inter-City Hotel zu Schwerin, das zu DDR-Zeiten Interhotel hieß und sich den Charme einer dezent ranzigen Devisenabsteige für Westler bis heute bewahrt hat, mieteten sich voriges Wochenende dreißig zornige Sozialdemokraten aus Mecklenburg-Vorpommern zum Krisengespräch ein. Vor ihnen lag eine schwere Aufgabe. Es galt Strategien gegen die Pläne der SPD-Landesspitze um den künftigen Ministerpräsidenten Harald Ringstorff zu entwickeln. Denn acht Jahre nach der Wiedervereinigung ist Ringstorff fest entschlossen, das bundesweit erste rot- rote Regierungsbündnis auf Landesebene mit der SED-Nachfolgepartei PDS in Mecklenburg-Vorpommern einzugehen.

Nach nur vierstündiger Debatte war die Forderung des aufgebrachten konservativen SPD-Basisgrüppchens formuliert: Die Entscheidung über eine Koalition mit der PDS dürfe nicht an diesem Wochenende auf dem SPD-Delegiertenparteitag gefällt werden. Statt dessen: eine Urabstimmung aller gut viertausend SPD-Mitglieder. „Es geht um die grundlegendste Frage, die die SPD je beschäftigt hat“, beschwört Rot- Rot-Widerständler Stephan Haring, 20, die „Tragweite“ eines solchen Bündnisses. „Viele der jetzigen SPD-Mitglieder sind 1989 gegen die Kommunisten auf die Straße gegangen.“

Doch die große Mehrheit der SPD kümmern solche moralischen Appelle längst nicht mehr. Die Einwände der „Handy-Gang“, wie der rechte SPD-Zirkel bespöttelt wird, weil seine Mitglieder zu den ersten gehörten, die nach der Wende über die ständige telefonische Erreichbarkeit verfügten, werden auf dem SPD-Parteitag vermutlich nicht einmal Erwähnung finden.

Fortwährend hatten die einen wie die anderen Roten ihre Verhandlungen als „entspannt“, „sachlich“ und „angenehm“ beschrieben. Von einem „neuen Stil“ der politischen Streitkultur, der zu Zeiten der Großen Koalition mit der CDU „nie möglich“ gewesen sei, schwärmte gar der designierte SPD-Ministerpräsident Harald Ringstorff, 59.

Beiläufig gestanden sich PDS und SPD damit ein: Sie sind sich ähnlicher, als sie es bisher wahrhaben wollen. Nicht nur in ihrem Politikstil und nicht nur in ihrer Überzeugung, daß die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus die vordringlichen Aufgaben für das ausklingende Jahrhundert sind. Ausschlaggebend für die rot-rote Nähe ist die einende Mentalität – eine Mischung aus politischem Pragmatismus und einem ausgeprägten Wirgefühl. Und das kommt immer dann zum Ausdruck, wenn es Anlaß gibt, nach acht Jahren Einheitserfahrung die Interessen Ostdeutschlands nunmehr hundertzwanzigprozentig verteidigen zu wollen.

Als Gerhard Schröder im Wahlkampf die milliardenschwere Ansiedlung des Airbus A3XX nicht explizit für den strukturschwachen Standort Rostock forderte, verstand PDS-Chef Helmut Holter, 45, die Bestürzung des SPD-Mannes Ringstorff auch ohne Worte. Denn: Wie kann einer wie Schröder nur seine eigene SPD-Familie so im Stich lassen? Wo die uneingeschränkte Unterstützung füreinander doch wenigstens im eigenen Kreis noch etwas zählen sollte! Diese Grundhaltung aus vierzig Jahren erlebter DDR-Vergangenheit prägt sowohl die PDS als auch die SPD.

Was soll dieser Kuschelkurs mit der PDS, fragen sich entsetzt nicht nur die versprengten rechten Sozis im Osten, sondern vor allem viele Genossen aus dem Westen. Hat die mecklenburg-vorpommersche Sozialdemokratie jegliches Feingefühl verloren? Droht nun ein Bündnis mit kommunistischen Demagogen, die dem SED-Unrechtssystem entsprungen sind, den Verfassungsschutz abschaffen wollen, die Stasiüberprüfung von Abgeordneten ablehnen und unsere Autos und Eigenheime enteignen werden?

Derlei Ängste um Imageschädigung der SPD sind eigentlich abwegig. Denn die PDS im Osten fällt, wider alles Erwarten ihrer westlichen Anhängerschaft, keineswegs durch Linksradikalismus auf. Die Ostseeautobahn findet die Schweriner Fraktionschefin und ausgewiesene Umweltpolitikerin Caterina Muth zwar nicht wünschenswert. Aber warum deswegen streiten, wenn die Betonpiste doch ohnehin auf Bundesebene bereits beschlossene Sache ist? Und fordern nicht selbst PDS- Bürgermeister entlang der Küste die Ostseeautobahn?

Die PDS ist eine Volkspartei, und das macht sie sympathisch, vor allem der SPD sympathisch. Die von der PDS sind solche, die zwar auf Parteitagen die „Systemopposition“ einfordern, im Alltag aber selten jemanden mit ideologisch verbrämten Reden über das Verhältnis von Linken und Kapitalismus quälen. Lieber organisierte man im Wahlkampf Ausflüge fürs Volk. Zum Beispiel eine Barkassenausfahrt mit Butterfahrtcharakter über den Schweriner Schloßsee.

Als Referent wurde der nicht eben charismatische PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch „aus Bonn extra hierher“ eingeflogen. Während der vorn am Mikrofon die abgesprochenen Fragen der PDS- Pressesprecherin pariert und erklärt, warum die PDS am Wahltag beide Kreuzchen verdiene, wird das Volk an Bord mit Sahnetörtchen und kännchenweise Kaffee abgespeist.

Die Stimmung ist so ausgelassen wie auf einer Weihnachtsfeier von Finanzbeamten. Für Publikumsfragen, bedauert auch Landeschef Holter anschließend, sei „bei all unserem Gerede gar keine Zeit“ geblieben. Dafür müßten die Ausflügler am Ende der gemütlichen Ausfahrt Kaffee und Kuchen selbst bezahlen – auch die PDS ist im Kapitalismus, wo eine Rundumversorgung nicht mehr bezahlbar ist, angekommen.

Dennoch sorgt die Volkspartei PDS allumfassend sich um und für das Volk. Auf kommunaler Ebene wird Nachbarschaftshilfe großgeschrieben: Rentenanträge, Mietverträge, Kindergeld für Alleinerziehende – in allen Lebensfragen steht die PDS den Orientierungslosen in der neuen bundesrepublikanischen Gesellschaft mit Rat und Tat zur Seite.

Auch deswegen fühlt sich die SPD mit ihrem sozialisationsbedingten Hang, auch und gerade für die Schwächsten in der Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen, stärker zu den Sozialisten hingezogen als zur CDU. Die Christdemokraten, die zuförderst auf Eigenverantwortung setzen, sind den Ostsozis auch nach den gemeinsamen Regierungsjahren fremd geblieben. Genosse Ringstorff setzt dagegen, wie die PDS, auf das Kollektiv.

Neidisch schielen die gescheiterten K-Gruppen-Anhänger der siebziger Jahre, die müden DKP-Leute und die enttäuschten grünen Fundis des Westens, die allesamt nach einem neuen politischen Zuhause suchen, auf die Wahlerfolge der PDS von weit über zwanzig Prozent in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern. Doch jeder von ihnen machte zweifellos auf dem Absatz kehrt, würde er plötzlich auf östlichen PDS-Parteipartys in Schwerin, Magdeburg oder anderswo zum Würstchengrillen, Schunkeln und Foxtrottanzen mit der Basis angehalten. Genau diese Art von Volksnähe gefällt hingegen dem SPD-Chef Ringstorff, der auch gern „Broiler“ (ostdeutsch für: Grillhähnchen) ißt.

Die Altkommunisten im Rentenalter, die immer noch knapp die Hälfte der PDS- Mitglieder stellen, schätzen vor allem, wie es ihren Rednern immer wieder gelingt, die PDS als die moralisch Guten darzustellen und sich über die dunklen Stellen in den eigenen Biographien, wie etwa Spitzelei oder Stasimitarbeit, auszuschweigen. „Die Vergangenheit muß aufgearbeitet werden“, findet Ringstorff. Doch solle dies in einem Klima der „Versöhnung“ geschehen. Schließlich kann man schlecht dafür sein, den künftigen Regierungspartner vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen.

Noch vor wenigen Jahren wären solche moderaten Töne für einen SPD-Spitzenmann undenkbar gewesen. Noch 1994 war es unschicklich, mit den SED-Nachlaßverwaltern überhaupt über eine Regierungszusammenarbeit zu verhandeln. Wochenlang spielten die beiden Parteien Katz und Maus miteinander – und mit der Presse. Auf geheimgehaltenen Routen quer durchs Land reisten damals die SPD-Unterhändler, um sich konspirativ mit der PDS zu treffen.

Inzwischen ist man in der postsozialistischen Normalität angekommen. Wie selbstverständlich fanden die rot-roten Verhandlungen um ein Regierungsbündnis nun im Schweriner Landtag statt – so wie Koalitionsgespräche mit jeder anderen Partei. Die Ost-SPD, die sich im Herbst 1989 gründete, und zwar ohne Unterstützung der westdeutschen Partei, hat zur Kenntnis genommen: Die PDS-Fundamentalisten verwandeln sich, sobald sie auf kommunaler Ebene in die Pflicht genommen werden, flugs in Pragmatiker.

Im Zweifel überholen die PDS-Kommunalpolitiker die Sozis sogar in Sachen Sachzwänge. So strich der PDS-Bürgermeister Otto Theel aus dem brandenburgischen Neuruppin Stellen von Kindergärtnerinnen. Und die PDS-Stadträte von Bad Düben stimmten trotz der Antimilitarismusklausel im Parteiprogramm unlängst wegen 72 Arbeitsplätzen für den Erhalt des örtlichen Bundeswehrstandorts.

Der unideologische Umgang der PDS mit der Macht kommt dem Politikverständnis der SPD im Osten, die gegenüber theoretischen Debatten und programmatischen Konzepten skeptisch ist, sehr entgegen. Eine, wie die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte bemerkt, „Reaktion auf die stalinistische Orthodoxie, die in den Jahrzehnten zuvor die DDR beherrscht hatte“. Außerdem, auch das ermutigt die SPD zur Zusammenarbeit mit den Sozialisten, geben in den PDS-Parlamentsfraktionen zunehmend die Reformer den Ton an.

Die Nachfolger der alten Garde, heute zumeist zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt, drängt es an die Macht. So hätten Männer wie der sachsen- anhaltinische PDS-Landeschef Roland Claus, 43, oder sein mecklenburgischer Kollege Holter mit ihren Forderungen nach „Investitionen“, „Ansiedlung mittlerer Wirtschaftsbetriebe“ oder „finanzierbaren Vorschlägen“ durchaus das Zeug zu Mittelstandslobbyisten. Und womöglich wären viele Realo-PDS-Genossen wie Holter heute in der SPD, wäre die DDR nicht 1989, sondern zehn oder fünfzehn Jahre früher zusammengebrochen.

Doch so kam die Wende zu einem Zeitpunkt, wo die steile SED-Karriere des Betonbauingenieurs Holter zu weit fortgeschritten war. Welche andere Partei hätte kurz nach der Wende einen, der wie Holter die Parteihochschule der KPdSU in Moskau absolviert hatte, schon aufgenommen? Der einzige Ausweg für jene, die dennoch in die Politik wollten, hieß PDS.

Einstige DDR-Systemtreue sitzen aber längst nicht nur in den Reihen der PDS. „Jeder hat in diesem System gelebt und ist Kompromisse eingegangen“, sagt etwa der Schweriner SPD-Landtgsabgeordnete Siegfried Friese, „die wenigsten waren durch und durch Widerstandskämpfer.“ Friese zählt sich auch nicht dazu. Bis 1990 war der zu DDR-Zeiten parteilose Dramaturg stellvertretender Leiter der Filmabteilung in dem mit Zensur nicht eben zimperlichen Ministerium für Kultur. Und die jugendpolitische Sprecherin der SPD- Fraktion, Sylvia Bretschneider, gibt zu, „jahrelang überzeugte Sozialistin gewesen“ zu sein.

Natürlich würden die Sozialdemokraten die Wählerschaft der PDS sehr gerne übernehmen. Womöglich hätte die Ost- SPD im Grunde ihres Herzens auch nichts dagegen, sich die Sozialisten komplett einzuverleiben. Denn braucht der Osten langfristig wirklich zwei sozialdemokratische Parteien? Detlef Lindemann, Schweriner SPD-Pressesprecher, scherzt: „Es gibt viele gute Sozialdemokraten bei der PDS.“ Und das wird er verdammt ernst gemeint haben.

Heike Haarhoff, 29, seit 1995 bei der taz in Hamburg, ist taz-Korrespondentin in Mecklenburg-Vorpommern