Afghanistans Taliban schlachteten Tausende Schiiten ab

■ Human Rights Watch und „Asiaweek“ bestätigen Massenmord in der Stadt Masar-e Scharif

Berlin (taz) – „Am dritten Tag sperrten die Taliban die Straßen und durchsuchten jedes Haus nach Hasaras“, berichtet ein tadschikischer Einwohner der nordafghanischen Stadt Masar-e Scharif. „Wir wurden alle auf Lastwagen verladen. Auf unserem Wagen waren noch zwei Hasara-Jungen. Als wir in der Nähe des Zollamtes stoppten, wurden die beiden Hasara heruntergeholt. Man sagte ihnen, sie sollten auf den Platz hinter dem Zollamt gehen. Ein Taliban- Soldat stieß sie vorwärts und schoß ihnen dann in den Kopf.“

Dies ist nur eine Aussage von vielen, die die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan über den Einmarsch der Taliban in die Stadt am 8. August aufnahm. In den Tagen darauf nahmen die Taliban gezielte Massenexekutionen vor. Augenzeugen berichten zudem über Entführungen und Vergewaltigungen von Frauen. „Mindestens 2.000 Menschen könnten in der Stadt getötet worden sein, möglicherweise aber noch viel mehr“, heißt es in dem gestern veröffentlichten Bericht „Das Massaker von Masar-e Scharif“.

Für HRW ist das „einer der schlimmsten Einzelfälle von Morden an Zivilisten in Afghanistans 20 Jahre langem Krieg“. Die Organisation präzisiert damit Berichte, die amnesty international bereits Anfang September verbreitet hatte. Darin war von „mehreren tausend“ Opfern die Rede. Ende Oktober hielten die Taliban HRW zufolge zudem noch immer 4.500 Männer aus der Stadt fest.

Bereits am Freitag hatte die Zeitschrift Asiaweek, die eigene Untersuchungen angestellt hatte, von einem „ethnischen Pogrom“ gesprochen, in dem „bis zu 6.000 Menschen abgeschlachtet worden sein könnten“. Die Zeitschrift zitiert einen hohen UN-Beamten, er habe in Masar-e Scharif „Echos von Srebrenica“ wahrgenommen. Das Massaker sei noch kein Genozid gewesen, „aber nicht weit davon entfernt“.

Die Massaker der Taliban richteten sich besonders gegen die ethnische und religiöse Minderheit der Hasara. Im Gegensatz zur sunnitischen Mehrheit der Afghanen sind sie Schiiten. Durch ihre meist mongolischen Gesichtszüge unterscheiden sie sich auch äußerlich von den anderen Afghanen. Sie selbst bezeichnen sich als Nachfahren Dschingis Khans, der auf seinen Beutezügen durch Afghanistan streifte. Das Wort „Hasara“ bedeutet im Persischen „Tausend“. In der Hasara-Mythologie verweist der Name auf die Tausendschaften, in denen das Heer des Nomadenherrschers organisiert war.

Neben innerafghanischem Rassismus war bei den Massakern der Taliban auch Rache im Spiel. Die vom Iran unterstützte Hasara- Kampforganisation Hesb-e Wahdat hatte den Taliban Mitte 1997 in Masar-e Scharif eine schmähliche Niederlage bereitet. Anschließend waren 2.000 gefangene Taliban abgeschlachtet worden. Dafür wird jedoch der usbekische Warlord Abdul Malik verantwortlich gemacht – auch von den Taliban. Erst am Donnerstag protestierten sie bei den USA, daß Washington dem „Massenmörder“ Malik ein Visum erteilt hatte. Malik hielt sich noch bis vor kurzem im Iran auf. Ihn wollten die Taliban gegen entführte iranische Diplomaten austauschen, eine Affäre, die beide Länder an den Rand eines Kriegs brachte. Thomas Ruttig