„Wer hat uns verraten?“

■ Heute vor 80 Jahren erreichte die Novemberrevolution Hamburg – Volker Ullrich hat ihre Ursachen und ihr Scheitern analysiert. Jetzt liest er in der Heine-Buchhandlung

Die Hamburger Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Zwar denkt man bei revolutionären Massen eher an Paris oder Berlin als an die norddeutsche „Provinz“, aber die letzte proletarische deutsche Revolution wurde von der Waterkant in die Hauptstadt getragen: die Erhebung der Soldaten und ArbeiterInnen, die 1918 das Kaiserreich stürzte. Heute vor 80 Jahren schwappte die revolutionäre Welle aus Kiel nach Hamburg.

Mit seinem neuen Buch Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution füllt der Hamburger Journalist Volker Ullrich diese Lücke in der Sozialgeschichte Norddeutschlands – zumindest teilweise. Auf 170 Seiten schildert der Leiter des Ressorts „Politisches Buch“ bei der Zeit, wie sich der Protest gegen den Ersten Weltkrieg aus einigen kleinen Grüppchen zu einer Bewegung Zehntausender entwickelte und welchen Anteil die linken Parteien daran hatten.

Seine Erzählung, die sich oft wie ein tagesaktueller Hintergrundartikel liest, setzt – recht unvermittelt – ein im Sommer 1914: Kriegstaumel erfaßt die HamburgerInnen. Aber längst nicht alle. Zwar singt die „feine Gesellschaft“ im überfüllten Alsterpavillon patriotische Lieder, in Arbeiterkneipen aber notierten Polizeispitzel Gespräche wie folgende: „Mich für andere Leute totschießen zu lassen, dazu hab' ich keine Lust.“ Ullrichs Sprung mitten hinein ins Geschehen ist reizvoll – aber es fehlt ein kurzer Überblick über die Vorgeschichte des Krieges und die sozialen Verhältnisse.

Ansonsten achtet der Autor darauf, allgemein verständlich zu formulieren. So ist auch für NichthistorikerInnen gut nachvollziehbar, wie die Sozialdemokratie nach anfänglichem „Protest gegen die Kriegshetze“ schon nach wenigen Wochen auf einen Burgfrieden umschwenkte und gar mit der Reichsregierung gemeinsame Sache machte, um sich unbequemer Kritiker aus den eigenen Reihen per Einberufungsbefehl zu entledigen. Die Frage nach dem „Warum?“ wird allerdings nur mit dem Hinweis auf den Antizarismus der SPD und der drohenden Repression angerissen. Das Großkapital mit seinen Interessen taucht lediglich am Rande und in historischen Zitaten auf.

Gründlicher analysiert Ullrich die Rolle der Zeitungen. Weil sie darüber nicht verfügen, gelingt es Unabhängiger SPD, Spartakus und Linksradikalen lange nicht, die Arbeiterschaft von ihren Ideen zu überzeugen. Dennoch ist es die vierjährige Vorarbeit der oppositionellen Linken, die den Ruf nach Frieden und Brot im Herbst 1918 zur Systemfrage werden läßt. Am 29. und 30. Oktober verweigern die Matrosen in Kiel den Gehorsam, fünf Tage später haben Arbeiter- und Soldatenräte die Stadt unter Kontrolle. Die Aufständischen ziehen weiter nach Hamburg und besetzen – zusammen mit ihren Hamburger Kollegen – in der Nacht vom 5. auf den 6. November die im Hafen liegenden Torpedoboote und den Elbtunnel. Der stellvertretende Generalkommandant von Falk flüchtet – „In Hamborg is Revolutschon“, freut sich der SPD-Abgeordnete Heinrich Dietz.

Doch die rote Fahne wehte nur drei Monate vom Rathaus. Der Niederlage der Revolution gegen Mehrheits-SPD, Bürgertum und Kapital – 79 Jahre vor Rot-grün – widmet Ullrich leider nur zwei Seiten. So wird sein Buch dem Sinn von Geschichtswissenschaft zwar weitgehend, aber nicht ganz gerecht: die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten.

Heike Dierbach

Volker Ullrich: „Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution“, Donat, Bremen, 214 Seiten, 29,80 Mark

Lesung: 19.30 Uhr, Heine-Buchhandlung, Schlüterstraße 1