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Das Geheimnis des Waldemar L.

In der Nachkriegszeit wurde er ein prominenter Mediziner. Was ihm die Nazis 1941 antaten, wußte er zu Lebzeiten aus Angst und Scham perfekt zu verbergen. Die Bonner Universität wird ihn am Dienstag in einem Festakt ehren – und damit schließlich sein Geheimnis preisgeben  ■ Von Peter Krüger

Das Schreiben nennt nicht die Namen derer, denen die verlorene Ehre wiedergegeben werden soll. Rektor und Senat der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, heißt es schlicht, „laden anläßlich des 60. Jahrestages der Novemberpogrome zu einem Gedenken an die Mitglieder und Absolventen ein, die Opfer des nationalsozialistischen Unrechts geworden sind“. Kommenden Dienstag findet die Gedenkstunde im Festsaal des Hauses statt, die mit „Liedern ohne Worte“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy beschlossen werden soll.

Einer jener Männer und Frauen, derer gedacht werden soll, erhält postum seine Approbation zurückverliehen, die ihm im Jahre 1938 auf Lebenszeit entzogen worden war. Der damals 37jährige wurde kein Opfer des arischen Volkssturms gegen jüdische Deutsche. Waldemar Ernst Lindenberg, der seinen Vornamen später in Wladimir änderte, hatte einen anderen Makel, der ihn aus der Volksgemeinschaft ausgeschloß. Er war homosexuell und damit in den Augen der Nazis ein „bevölkerungspolitischer Blindgänger“ (SS-Chef Heinrich Himmler).

Knapp zwei Jahre zuvor, im Dezember 1936, wurde er in Bonn verhaftet. Der Vorwurf: Vergehen gegen den Paragraphen 175. Die Strafkammer Bonn verurteilte den Mediziner und Spezialisten für Hirnverletzungen schließlich am 11. Mai 1937 zu vier Jahren Gefängnis. Lindenberg, bei Machtübernahme der Nazis 1933 Mitgründer der „Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung“, nahm das Urteil klaglos an. Um seine Einsicht und seinen Besserungswillen zu zeigen, stellte er in der Strafanstalt zu Wittlich nahe Trier sogar den Antrag, Schwerstarbeit in einem Freilandlager leisten zu dürfen. Es waren für ihn drei harte Jahre in ostfriesischen Gefangenenlagern. Am Ende der Fron im Moor war er bis auf die Knochen abgemagert.

Im Winter 1940 hätte Lindenberg aus der Haft entlassen werden müssen. Doch inzwischen galt Homosexualität als politisches Vergehen und nicht mehr nur als krankhaftes und unerwünschtes Verhalten. Im Januar 1941 erfährt er, daß er nach einer Verordnung Himmlers als Schwuler in Vorbeugehaft für das KZ Sachsenhausen genommen wird.

Lindenberg, so tief beschämt er über seine sexuelle Orientierung gewesen war, zeigt sich nun bereit, die einzige noch verbliebene Chance zu nutzen, die ihm eine KZ-Haft ersparen würde. Am 1. Februar 1941 stellt er einen Antrag auf „Freiwillige Entmannung“. Sein Vater Karl Lindenberg, Unternehmer in Remscheid, schreibt Briefe an das Reichssicherheitshauptamt und Rudolf Heß, Stellvertreter des Führers, dem Gesuch seines Sohnes zu entsprechen. Am 22. Mai jenes Jahres werden Lindenberg beide Hoden entfernt. Im Sinne der Nationalsozialisten war er nun kein Mann mehr.

Und Männer, die keine Männer waren, wollte die Wehrmacht selbst an der Front nicht dulden. Lindenbergs leidenschaftlicher Wunsch, doch bitte nach der Haftentlassung am 1. September 1941 in den Krieg gegen die Feinde Deutschlands ziehen zu dürfen, wurde verweigert. Statt dessen wurde er als „Gemeingefährlicher“ unter polizeiliche Aufsicht gestellt.

Als Arzt konnte Lindenberg nicht weiterarbeiten, die Approbation war ihm ja schon nach der Verurteilung als Schwuler 1938 aberkannt. Bis zum Kriegsende fand er Beschäftigung als Mitarbeiter in der chemischen Industrie in Berlin.

Nach dem Ende der NS-Zeit verwischt er die Spuren seiner Leidensgeschichte. Lindenberg nutzte die Wirren der ersten Nachkriegsjahre, um die Schande einer Verfolgung nach Paragraph 175 zu verbergen. Als Homosexueller, das war absehbar, würde er auch in einem nachfaschistischen Deutschland Schwierigkeiten haben.

Er heiratet, wurde für vier Jahre Mitglied der antifaschistischen SED und findet mit seinen perfekten russischen Sprachkenntnissen guten Kontakt zur sowjetischen Militäradministration – und wird Chefarzt des Krankenhauses Berlin- Heiligensee. Daß er überhaupt wieder als Mediziner arbeiten konnte, lag daran, daß er die Aberkennung seiner Approbation verschwieg.

Wenn Lindenberg seine Inhaftierung vor 1945 erwähnte, erklärte er, daß er als Mitglied der Nerother-Jugendbewegung aus politischen Gründen verurteilt wurde. Legenden, Schicksale, Biographien welcher Art auch immer wurden damals nur im Falle von verdächtigen NS-Mitgliedern überprüft – wer gelitten hatte, bekam nur selten genaue Fragen gestellt.

Die Camouflage funktionierte. Waldemar Ernst Lindenberg, der sich schon seit Studienzeiten Wladimir nannte, begann seinen Vater zu verleugnen. Es sei nur ein Stiefvater. In Wirklichkeit stamme er von dem russischen Fürsten Alexander Tschelischtschew ab. Eine Erfindung, in keinem Adelsstammbaum nachweisbar, um sich, vielleicht unbewußt, an seinem Vater Karl zu rächen: Der hatte ihn schließlich gedrängt, sich kastrieren zu lassen.

1947 begann Lindenbergs Aufstieg zu einem der prominentesten Ärzte Berlins. Als Leiter der Hirnverletztenabteilung im Evangelischen Waldkrankenhaus Berlin- Spandau wurde er zum „Vater der Hirnverletzten“. Seine inzwischen weiblich- hohe Stimme wußte er zu erklären: Als Kind einer russischen Mutter habe er ein slawisches Lebensgefühl und eine dementsprechend aufgeregte Sprachmelodie.

Mehr und mehr begann Lindenberg, seine schwule Sexualität zu vergessen. Mit der Entsexualisierung ging eine Spiritualisierung einher. Er schrieb beispielsweise vierzig Bücher. Ihre Themen glichen sich: Legenden um Wladimir Lindenberg, der sein Herz in den Weiten Rußlands lassen mußte, um in Deutschland zur Inkarnation eines Fast-Heiligen zu werden. In seinem Privatleben kultivierte er einen Seelenkult, der bis zu seinem Tod im vorigen Jahr Männer und Frauen anzog, die sich wie er von der schnöden Welt angewidert fühlten. Lindenberg war ihnen mehr als ein Meister der Gespräche – er war das Objekt des Gesprächs selbst, fast gottgleich.

Das mag ihm Trost gewesen sein, die irdischen Formen der Liebe nicht mehr leben zu können. Lindenberg war ein einsamer Mann; die Ehe mit seiner Frau Dolina, verwitwete Gräfin Roedern, wurde lediglich geistig vollzogen. Abwechslungsreich schien sein Leben trotzdem zu verlaufen. Lindenberg war ein gefragter Nervenarzt und Psychologe; über Lebenskunst referierte er in vielen bundesdeutschen Städten; als Yogalehrer reüssierte er im Fernsehen. Auch diese noble Stellung im Gesellschaftsleben der Nachkriegsrepublik mag als später Triumpf gelesen werden. Einer über die Nazis, die einen wie ihn umbringen wollten.

Am Ende seines Lebens war Lindenberg ein hochgeehrter Mann. Ehrenbürger Berlins. Zweifacher Träger des Bundesverdienstkreuzes. Trug den Professorentitel honoris causa. Mut, darüber zu reden, was ihm wirklich im Leben widerfahren war, hatte er nicht. Er muß früh gelernt haben, daß Homosexualität ein Fluch war, dreckig, widerlich, unehrenhaft. Das Versteckspiel dieses – so seine Freunde – charmanten und herzlichen Mannes ist verständlich: Der Naziparagraph gegen Homosexualität wurde erst 1969 abgeschafft. Erst im vorigen Jahr wurden die Naziurteile – auch gegen Homosexuelle – für unrecht erklärt.

Lindenbergs postumes Outing in Form einer Ehrung gelang nur, weil sein Fall schlecht anonymisiert in der Abteilung „Zwangskastration“ der Kölner Ausstellung „,Das sind Volksfeinde!' – Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945“ dokumentiert war.

Der Grund des Gedenkens an Wladimir Lindenberg wird von der Bonner Universität nicht schamvoll verschwiegen. Das wird ihm gerecht. Und tröstet.

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