: „Die Bevölkerung sorgte für Ordnung“
Vor 60 Jahren: Die „Reichspogromnacht“ in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Hamburg war der Auftakt zur Vernichtung der deutschen Juden ■ Von Kay Dohnke
Erst bewegte sich ein Kronleuchter, schwankte immer heftiger und verlöschte, dann flogen Stühle aus dem Fenster. „Eine weiße Schlange hüpfte vom Fenstersims und glitt runter, sie schien endlos.“ Der Vandalismus, den die 13jährige Betty Emanuel am 10. November 1938 von ihrem Schlafzimmerfenster in der Straße Rutschbahn im Grindelviertel aus beobachtet, findet zu gleicher Zeit auch anderswo in Hamburg und in vielen weiteren deutschen Städten und Orten statt: Synagogen werden gestürmt, demoliert und angezündet, Tora-Rollen werden abgerollt und verbrannt. In Nazi-Deutschland herrscht die Barbarei.
Die Ausschreitungen und Übergriffe dieser „Reichspogromnacht“ hatten einen wenig bekannten Auftakt. Als Polen im Herbst 1938 ankündigte, seine im Ausland lebenden jüdischen Staatsangehörigen auszubürgern, führten die Nazis spontan eine umfangreiche Abschiebungsaktion polnischer Juden durch. Allein in Hamburg transportierte die Gestapo mehr als 1.000 völlig unvorbereitete Menschen ab und brachte sie in das Internierungslager Zbastyn an der polnischen Grenze.
Aus Hannover wird die Familie Grünspan deportiert. Doch deren Sohn reagiert auf unerwartete Weise: Am 7. November schießt Herschel Grünspan in Paris den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath nieder. Als dieser zwei Tage später stirbt, fordert NS-Propagandaminister Joseph Goebbels vor einer Versammlung ranghoher Nazis in München Sühnemaßnahmen gegen die Juden. Auf unterschiedlichen Wegen – per Telefonkette bis hinunter zu örtlichen SA-Stürmen und in Fernschreiben an sämtliche Stapo-Stellen – werden klare Anweisungen gegeben: Juden sind systematisch anzugreifen, ihre Geschäfte zu zerstören, die Synagogen in Brand zu setzen.
Noch in der Nacht vom 9. auf den 10. November befolgen die Handlanger des NS-Regimes vielerorts die Weisungen von oben: Als Form eines angeblichen „Volkszorns“ gehen SA-Männer in Zivil oder Uniform gegen jüdische Einrichtungen, Geschäfte und vereinzelt Wohnhäuser vor. In Hamburg wenden sie sich zuerst gegen die religiösen Stätten. Am Bornplatz brechen sie die Synagoge auf, zerschlagen Fenster, Lampen, Möbel, Kultgegenstände; das anschließend gelegte Feuer richtet jedoch nicht die erwartete Zerstörung an.
Fast zeitgleich dringen gewalttätige Trupps generalstabsmäßig in das Haus der Israelitischen Gemeinde in der Rothenbaumchaussee, die kleine Dammtor-Synagoge, den Tempel in der Oberstraße und in die Kleine Synagoge an der Rutschbahn ein und verwüsten die Einrichtung; auch in Harburg, Wandsbek und Altona sind Synagogen und Tempel ihr Ziel.
Andere Schergen des Regimes ziehen derweil in die Innenstadt zu den Geschäften von Robinsohn und Hirschfeld, Campbell, Unger und anderen; sie zerschlagen die Schaufenster, zerstören die Ware und reißen Ladenschilder herunter. Die Nazi-Presse nennt diese Ausschreitungen „spontane Kundgebungen“ und schreibt: „Von der Bevölkerung wurde dabei selbst für Ruhe und Ordnung gesorgt, so daß die Polizei keinen Anlaß zum Eingreifen fand.“ Tatsächlich bleiben die überall wie auf Kommando erschienenen Beamten passiv, auch die Feuerwehr steht nur bereit, um „arischen“ Besitz zu schützen.
Noch während am Morgen des 10. November viele Menschen ungläubig die nächtlichen Verwüstungen in Augenschein nehmen, lassen Polizei, Gestapo und SA weitere drastische Maßnahmen folgen: Jüdische Männer über 15 Jahre werden daheim abgeholt, an ihren Arbeitsplätzen verhaftet oder bei Straßenkontrollen aufgegriffen. Im Gefängnis Fuhlsbüttel müssen sie Schmähungen und Tätlichkeiten über sich ergehen lassen und in qualvoller Enge auf den ungewissen kommenden Schritt warten.
Die Fassade einer letzten Rechtsstaatlichkeit fällt: Die Festnahme vor allem vermögender oder einflußreicher Juden – Geschäftsinhaber, Ärzte, Anwälte, Intellektuelle – erfolgte ohne Haftbefehl; sie entlarvt sich als pure Manifestation von Macht und gibt diffusen Rachegelüsten freies Spiel. Die Willkür trifft aber auch weniger exponierte Hamburger Juden. Mehr als 1.000 jüdische Männer aus Hamburg werden ins KZ Sachsenhausen gebracht, dort tage- und wochenlang festgehalten und oft erst nach Zahlung hoher Geldsummen freigelassen.
Die Gewalt- und Machtorgie des November 1938 wird zur Zäsur und leitet die immer unverhohlenere Unterdrückung und Enteignung, Bedrohung und Verfolgung der Juden ein, die schließlich in der systematisch betriebenen Massenvernichtung großer Teile einer ganzen Bevölkerungsgruppe gipfelt.
Von einstmals fast 20.000 Hamburger Juden leben bei Kriegsende noch 300 in der Stadt; fast 9.000 Opfer von Deportation und Massenmord sind namentlich bekannt. Wieviele Menschen tatsächlich überleben konnten, weiß niemand.
Die Spuren jüdischen Lebens sind im Hamburg der Gegenwart fast gänzlich verschwunden. Die Synagoge am Bornplatz wurde im Juli 1939 abgebrochen und das Trümmergelände nach dem Krieg als schäbiger Parkplatz genutzt. Erst 50 Jahre nach der Pogromnacht, am 9. November 1988, wurde dort eine Gedenkstätte eingerichtet.
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