Lebenslänglich trotz Freispruchs

■ Der Geiger Vasile Darnea ist von dem Vorwurf, er habe eine Überfall auf seine Lehrerin organisiert, freigesprochen worden. Trotzdem quälen den Studenten Gewissensbisse Von Kerstin Schneider

ewissensbisse. Vasile Darnea wird sie nicht los. Daß ihn die Große Strafkammer des Bremer Landgerichts freigesprochen hat, hilft ihm nicht. Sie begleiten ihn, wenn er morgens durch die Aula der Bremer Musikhochschule an der Säule mit dem Wegweiser vorbeigeht. „Maria Grevesmühl - Violine, Raum 103“ steht dort noch immer, obwohl die Professorin schon seit knapp zwei Jahren tot ist. Sie sind bei ihm, wenn er ein Stockwerk höher am Ende des langen Korridors in dem ehemaligen Arbeitszimmer seiner Lehrerin auf der Geige Édouard Lalos „Symphonie espagnole“ einstudiert. „Wenn ich nicht solche Bekannte gehabt hätte, würde Frau Grevesmühl noch leben“, sagt der 23jährige Musikstudent.

Das Zimmer von Maria Grevesmühl ist seit ihrem Tod kaum verändert worden. Links in der Ecke, neben der Tür, steht noch immer der schwarzgelackte Steinway-Flügel, auf dem die Geigenschüler manchmal von Klavierstudenten begleitet werden. Auch der braungepolsterte Stuhl am Fenster, auf dem Maria Grevesmühl gesessen hat, wenn sie Vasile Darnea zugehört und ihn korrigiert hat, ist noch da. Nur das Poster an der Wand ist verschwunden. Es war das Bild der Stradivari, die Maria Grevesmühl zum Verhängnis geworden ist.

Am Abend des 28. Oktober 1996 paßt der 31jährige Rumäne Marin Boaca die Professorin auf dem Bahnhof in Bremen-Schönebeck ab, als sie gerade von der Fußgängerbrücke die Treppe hinunter zum Parkplatz gehen will. Er entreißt der 60jährigen Frau den Koffer mit ihrer Geige. Maria Grevesmühl stürzt und schlägt mit dem Kopf auf die Steinstufen. Marin Boaca flüchtet mit der Geige. Die über 300 Jahre alte Violine hat einen geschätzten Wert von rund zwei Millionen Mark und gilt als eines der wertvollsten Musikinstrumente der Welt. Etwa 15 Minuten später stirbt Maria Grevesmühl am Tatort an ihren schweren Verletzungen.

Zwei Tage später wird Marin Boaca festgenommen. In seinem Portemonnaie findet die Kripo eine Visitenkarte: „Vasile Darnea – Violine“ steht dort in geschwungenen Buchstaben auf weißem Karton. Marin Boaca gesteht den Überfall. Es sei nicht seine Idee gewesen, die Lehrerin zu überfallen, sagt er. Vasile Darnea, der Lieblingsschüler von Maria Grevesmühl, habe ihn angestiftet, die Professorin zu überfallen, um an ihre Geige zu kommen.

och in der Nacht stürmen sieben maskierte Beamte des Sondereinsatzkommandos der Bremer Polizei mit vorgehaltenen Maschinenpistolen die Wohnung von Vasile Darnea und nehmen den Musikstudenten fest. „Es war gespenstisch“, erinnert sich Vasile Darnea an jene Nacht, die sein Leben schlagartig verändern sollte. „Aber ich habe gedacht, das machen die mit allen Studenten von Frau Grevesmühl so.“

Vasile Darnea bestreitet von Anfang an, etwas mit dem Überfall zu tun zu haben. „Nie hätte ich Frau Grevesmühl etwas zuleide getan. Ich habe sie geliebt, sie war für mich wie eine Mutter“, beteuert Vasile Darnea heute noch. Er hat seiner Lehrerin viel zu verdanken. Sie hat ihn von der Straße an die Musikhochschule geholt. Mit dem billigen Imitat einer Geige von Amati, dem Lehrer Stradivaris, war Vasile Darnea als 17jähriger mit Schleppern illegal aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Kurz vorher war er durch die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule in Bukarest gefallen. „Ich glaube nicht, daß ich schlecht war“, betont Vasile Darnea. „Aber die Lehrer wollten, daß wir sie schmieren. Und das Geld hatten meine Eltern nicht.“ Der aussichtslose Asylbewerber erfiedelte sich in der Verdener Fußgängerzone ein paar Mark – bis Maria Grevesmühl den Straßenmusiker entdeckte. Überzeugt von dem außerordentlichen Talent des Musikers holte ihn die Professorin an die Bremer Musikhochschule – gegen den erbitterten Widerstand ihrer Kollegen.

„Sie haben die Frau auf dem Gewissen, Ihre Gönnerin, die haben Sie auf dem Gewissen“, fährt ein Kripo-Beamter Vasile Darnea beim Verhör an. „Nein, nein“, beteuert der Student. „Ja, sehr wohl“, sagt der Polizist. „Sie haben sich die Finger nicht schmutzig gemacht.“ „Nein“, wiederholt Vasile Darnea. Daß vor der Tür ein Fernsehteam von Radio Bremen mit Richtmikrophonen steht, das das Verhör für einen Film über die Ermittlungen der Mordkommission aufzeichnet, ahnt er nicht.

Auch als die Kripo kurz darauf die Wohnung von Vasile Darnea durchsucht, während der Student in Untersuchungshaft sitzt, ist das Fernsehteam dabei. Eine Polizistin blättert im Schlafzimmer von Vasile Darnea vor laufender Kamera in seinem Fotoalbum. Ein Bild zeigt den Straßenmusikanten mit seiner Geige in der Verdener Fußgängerzone. „Schwiegermutters Liebling“, sagt die Kripo-Beamtin spitz. Als kurz darauf auch noch der Bruder von Vasile Darnea festgenommen wird, weil eine Zeugin ihn kurz vor der Tat mit Maria Grevesmühl im Zug gesehen haben will, scheint der Fall klar. Wolfgang Rau, Chef der Bremer Mordkommission, findet auf einer Pressekonferenz deutliche Worte für das vermeintliche Komplott der Rumänen: „Undank ist der Welt Lohn“, sagt er und setzt die Maschinerie der Vorverurteilung in Gang.

„Es war ihr Geigenschüler“, titelt die Bild-Zeitung. Doch die Geschichte vom undankbaren Schüler sorgt nicht nur in Deutschland für Schlagzeilen. Auch die größte rumänische Tageszeitung „Ewenimentul zilei“ berichtet über den Geigenstudenten, der seine „Gönnerin für eine Stradivari ums Leben brachte“. Der Film, der in der Serie „Unter Deutschen Dächern“ gezeigt wird, zeichnet das Bild eines gewissenlosen Anstifters, der nach dem Überfall auf seine Lehrerin nicht davor zurückschreckt, ein Benefiz-Konzert für sich selber zu arrangieren, um den Anwalt zu bezahlen, der ihn raushauen soll. Filmszenen werden vom Hamburger Landgericht verboten, weil sie die Persönlichkeitsrechte des Geigers verletzt haben. Der Film wird vom Deutschen Anwaltsverein scharf kritisiert, weil er die Unschuldsvermutung „aufs Gröbste“ verletzt habe.

nderthalb Jahre nach dem Überfall auf Maria Grevesmühl wird das Urteil gesprochen: 13 Jahre Haft für Marin Boaca, Freispruch für Vasile Darnea. Sein Bruder ist nicht angeklagt und vor Gericht gestellt worden. Er kann nicht mit Maria Grevesmühl im Zug gesessen haben. Er hat ein wasserdichtes Alibi. Die Aussage der Zeugin hat sich als nachweislich falsch herausgestellt. Erleichert verläßt Vasile Darnea den Gerichtssaal. Auf dem Flur bestürmen ihn Freunde und Bekannte. Sie schütteln ihm die Hand. Vasile Darnea lächelt freundlich, aber er scheint sie kaum wahrzunehmen. Sein erster Weg führt ins Reisebüro. Er will nach Rumänien – seine Eltern besuchen. Zu Hause, in Turnu Magurele, einer kleinen Stadt in der Nähe der bulgarischen Grenze, wird der verloren geglaubte Sohn gefeiert. Von morgens bis abends klopfen die Nachbarn an die Tür des zerfallenen Häuschens seiner Eltern, um Vasile zu gratulieren. „Die Leute in meiner Heimat haben nie geglaubt, daß ich so etwas tun könnte“, sagt er. Trotzdem will Vasile Darnea nicht in Rumänien bleiben. Zwei Wochen später kehrt er nach Deutschland zurück. Er will sein Studium an der Musikhochschule beenden. Bis zum Abschluß sind es noch drei Semester. „Ich will ein wirklich guter Geiger werden, das hätte Frau Grevesmühl sich gewünscht“, sagt Vasile Darnea und reibt mit den Fingern gedankenverloren über die wundgescheuerte Stelle am Hals. Auf den Fluren der Musikhochschule scheint der Tod von Maria Grevesmühl kein Thema mehr zu sein. „Meine Kommilitonen sind sehr lieb zu mir“, versichert Vasile Darnea. Nur manchmal, wenn er sich in der Aula einer Gruppe von Studenten nähert, die plötzlich verstummt, fragt er sich, ob das etwas zu bedeuten hat. Redet man über ihn oder über das Urteil?

eine erste Freude über den Freispruch hat sich gelegt. Auch daß die Staatsanwaltschaft die ursprünglich geplante Revision inzwischen zurückgezogen hat, tröstet ihn nicht. „Daß ich im Gefängnis war, kann ich vergessen. Daran, daß die Leute mich anstarren, werde ich mich gewöhnen. Frau Grevesmühl ist tot, und das ist nicht mehr zu ändern.“

Die Frage, wer hinter dem Überfall auf seine Lehrerin gesteckt haben könnte, läßt ihn nicht los. Daß das Gericht keine „ausreichenden Anhaltspunkte für eine Anstiftung“ durch ihn gefunden hat, hat Vasile Darnea mittlerweile schriftlich. „Wir glauben Ihnen Ihre Anschuldigungen nicht“, sagt die Richterin bei der Urteilsverkündung zu Marin Boaca. Er hat die Geduld der drei Richter und zwei Schöffen mit seinen „widersprüchlichen“ und „wenig glaubhaften“ Aussagen auf eine harte Probe gestellt. Erst beschuldigt er Vasile Darnea, den Überfall geplant zu haben. Dann nimmt er diese Aussage zurück und behauptet, ein anderer Musikstudent, der Klavierspieler Razvan D., sei der Drahtzieher des Überfalls gewesen. Ravzan D. ist ein Kommilitone von Vasile Darnea. Er hat oft mit ihm im Zimmer von Frau Grevesmühl gesessen und den Geiger am Flügel begleitet. Zu den Vorwürfen können die Richter Razvan D. nicht mehr befragen. Zehn Tage nach dem tödlichen Überfall auf die Lehrerin hat er sein Studium überraschend abgebrochen und ist nach Rumänien zurückgekehrt. Seitdem ist er verschwunden und gilt für die Behörden als „unauffindbar“.

Auch die Ermittlungsmethoden der Kripo geraten vor Gericht ins Zwielicht. Als einer der Beamten im Portemonnaie von Marin Boaca die Visitenkarte des Geigers findet, wirft er sie laut Aussage Boacas, auf den Tisch und schreit: „Jetzt erzähl' uns endlich die Wahrheit.“ „Die Polizei hat mir nicht geglaubt, also mußte ich versuchen, etwas zu finden, was die mir glaubten“, verteidigt sich Boaca vor Gericht. Doch im Laufe der Verhandlung kommen noch andere, merkwürdige Tatumstände ans Licht, die vorher niemand geahnt hat. Der Hehler, über den Marin Boaca versucht hatte, die Geige auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, ist ein Verwandter von ihm. Er hatte der Polizei den entscheidenden Tip gegeben, der zur Verhaftung Boacas führte – nachdem die Versicherung eine Belohnung von 60.000 Mark für die Wiederbeschaffung der Stradivari ausgesetzt hatte. Eine Zeugin behauptet, sie hätte den Eindruck gehabt, daß die Geliebte von Marin Boaca eine „Führungsrolle bei dieser Sache“ gespielt habe.

Nach 14 Verhandlungstagen steht auch für die Richter fest: Der „Täterkreis“, der hinter dem Überfall stecken könnte, ist „groß“. Daß Vasile Darnea etwas mit dem tödlichen Überfall auf seine Lehrerin zu tun hat, halten die Richter für unwahrscheinlich. Einige Zeugen hätten den Geiger mit ihren falschen Aussagen unter Umständen sogar gezielt belastet, um von sich selbst abzulenken, so die Richter. Sie glauben eher, daß der Geigenstudent von den Drahtziehern „ausgehorcht“ worden ist oder „leichtfertig herumerzählt“ hat, daß seine Lehrerin eine wertvolle Stradivari besitze.

Worte, die Vasile Darnea nicht aus dem Kopf gehen. Zehn Tage vor dem Überfall hat er sich mit Marin Boaca getroffen. Er ist kein Freund, sondern ein Bekannter, ein Landsmann eben. Vasile Darnea hat ihn über einen Kommilitonen, den Klavierspieler Ravzan D., kennengelernt. Der Geiger trifft sich gelegentlich mit Marin Boaca und plaudert mit ihm über die Heimat, über die Schule und über seinen Job als Straßenmusikant. Seine Geige ist kaputt. In der Fußgängerzone hat jemand einen Beutel mit Wasser aus dem Fenster geworfen und die Geige getroffen. 8.000 Mark kostet die Reparatur. Die Versicherung hat sich bereit erklärt, den Schaden zu bezahlen. „Gott sei Dank, daß das nicht die Geige meiner Lehrerin war“, sagt Vasile Darnea zu Marin Boaca. „Das wäre teuer geworden. Die hat nämlich eine echte Stradivari, die zwei Millionen Mark wert ist.“ Vasile Darnea schüttelt den Kopf. Seine Stimme bebt: „Nie hätte ich das erzählen dürfen. Aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich habe mir nichts dabei gedacht“, wiederholt er und schweigt einen Moment lang. „Wenn man in der Fremde ist, rückt man näher zusammen. Da ist man froh, wenn man jemanden aus der Heimat trifft, und guckt nicht so genau. Heute weiß ich, daß das ein Fehler war. Ich bin vorsichtiger geworden, mit wem ich mich umgebe. Wem nützt das noch?“

rei Monate und eine Woche hat er in Untersuchungshaft gesessen. Über die Haft und seine Schwierigkeiten nach der Entlassung redet Vasile Darnea nicht gern. „Ich fühlte mich sehr schwach und wußte nicht, was ich machen sollte. Im Alten Testament habe ich dann das Buch Hiob gelesen. Gott läßt zu, daß der Teufel Hiob quält, um ihn zu prüfen. Danach habe ich Kraft geschöpft und mir meine Geige bringen lassen.“ Daß er durch die Haft seinen Job bei den Radiophilharmonikern des NDR in Hannover verloren hat, erwähnt Vasile Darnea nicht. „Was ist das gegen den Tod von Frau Grevesmühl?“

Das Grab seiner Lehrerin hat der Musikstudent bisher nicht besucht. „Das kann ich nicht“, sagt Vasile Darnea und verschränkt die Arme wie einen Schutzwall vor der Brust. „Ich möchte sie lieber so in Erinnerung behalten, wie sie war. Wenn ich in ihrem Zimmer Geige spiele, habe ich oft das Gefühl, daß sie mir zuhört. Ich frage dann: ,Frau Grevesmühl, ist das gut, gefällt Ihnen das?'

Um sein Studium zu finanzieren, spielt Vasile Darnea wieder dort, wo er vor sechs Jahren angefangen hat: auf der Straße. Nur in Bremen spielt er nicht mehr so gern. Als der Straßenmusikant in der Verdener Fußgängerzone mit dem Bogen über die Saiten seiner Geige streicht und die ersten Töne von Vivaldis „E-Dur-Violin-Konzert“ spielt, dreht die Verkäuferin in der Losbude ihre Boxen auf. „Butterfly, my butterfly“, dröhnt Daniel Gerrads Hit aus den 70er Jahren über die Straße. Vasile Darnea wickelt seine Violine in ein buntgemustertes Baumwolltuch, legt sie wieder in den Geigenkasten und schließt den Deckel. „Das gehört jetzt zum Spiel“, sagt er. „Früher ist mir das auch passiert. Aber heute reagiere ich anders darauf. Ich frage mich immer: Vertreiben die Leute mich, weil sie meine Musik nicht mögen oder weil sie mich erkennen und denken: Was traut der sich noch auf die Straße, der hat doch seine Lehrerin auf dem Gewissen.“

Nach dem Studium will Vasile Darnea zurück nach Rumänien. „Oder ich gehe woanders hin, vielleicht nach London“, überlegt er. „Aber es ist ja egal, wohin ich gehe. Diese Geschichte wird mich immer begleiten. Ich bin freigesprochen, aber ich werde nie wieder frei sein.“