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Zweite Befreiung

■ Beschwerlicher Weg bis zur Staatsgründung Israels: Der 1998 mit einem Oskar ausgezeichnete Dokumentarfilm „The Long Way Home“

Auf dem Wochenmarkt in Dachau schmecken die Radieschen so gut wie überall zu dieser Jahreszeit. Die Marktfrau lacht, und man merkt ihr an, wie zufrieden sie ist mit den Radieschen, dem Geschäft, vielleicht sogar mit ihrem Leben. Frieden liegt über dieser ersten Einstellung des Dokumentarfilms „The Long Way Home“ von Mark Jonathan Harris, alltäglich und selbstverständlich geht es zu. Bis die Kamera die zivilbürgerliche Oberfläche durchdringt und Bilder aus dem Konzentrationslager Dachau folgen.

Soldaten schleppen menschliche Gerippe ans Licht, sie werfen Leichen in Massengräber, und auf den Gesichtern der wenigen Überlebenden spiegeln sich noch immer Entsetzen und Schwäche. Es ist der Augenblick, in dem die Alliierten die Tore zu den Konzentrationslagern öffnen. Für die Opfer ist es der Moment der Befreiung, für die Täter der ihrer unleugbaren Identifizierung.

Von diesem Ende nimmt „The Long Way Home“ seinen Anfang. Der Film dokumentiert den Weg von 300.000 jüdischen Überlebenden aus den Vernichtungslagern des Holocaust nach Israel. Er erzählt von den Flüchtlingen, den „Displaced Persons“, die in den zu Sammelstationen umfunktionierten Konzentrationslagern unter katastrophalen Bedingungen oft noch jahrelang aushalten mußten, von ihren vergeblichen Versuchen, eine Einreise in Palästina zu erwirken.

Regisseur Harris schneidet und kommentiert sein Material im Sinne der Ermutigung. Das ist das besondere an diesem Film, dessen Entstehen in das Jahr des 50jährigen Bestehens des Staates Israels fällt. Darin liegt aber auch ein Problem. Denn der Zug in Richtung Zukunft und Staat fordert deutliche Zugeständnisse an die Geduld und Genauigkeit der Arbeit. Nur knapp schildert der Film die Ereignisse der Jahre zwischen 1945 und 1948 an einzelnen Schicksalen. Mit jedem Interview und jeder Episode stemmt er sich gegen die Trauer und das Entsetzen und läßt den verzagten und verzweifelten Stimmen wenig Raum. Es klingt befremdlich, aber „The Long Way Home“ ist ein stolzer Film, der seine Perspektive von der Adresse der Täter genauso wie von der Position der Opfer energisch zu emanzipieren sucht. Entschlossen, oft sehr pathetisch, geht es ihm hauptsächlich um die Staatsgründung Israels. Als Ben Gurion im Jahr 1948 den jüdischen Staat ausruft, ist die Chance da, ein Gegengewicht zum Trauma der Vergangenheit herzustellen. Erst jetzt, so die Botschaft der oskarprämierten Dokumentation, werden die Holocaust-Überlebenden wirklich aus den Lagern befreit. Elisabeth Wagner

17.45 Uhr und 20 Uhr, Kino Hackesche Höfe 4, Rosenthaler Str. 40–41

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