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Seitenblicke auf den Nationalsozialismus

Zwei Bücher, zwei sehr unterschiedliche Weisen der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kommunismus: Wippermann relativiert sie unter Bezugnahme auf den Nationalsozialismus, Koenen erkennt in den beiden Terrorsystemen „zweierlei Singularität“  ■ Von Martin Jander

Die Debatte um Geschichte und Verbrechen des Kommunismus hat die deutsche Nachkriegslinke spät erreicht. Die in den 50er Jahren ausgebliebene Aufarbeitung des Nationalsozialismus trug ihren Teil dazu bei. Die Thematisierung kommunistischer Verbrechen wurde seither nicht nur von interessierter Seite immer mit dem Odium der Verharmlosung der NS-Verbrechen umgeben. Vielen Nachkriegskindern, die das Schweigen und die Lügen ihrer Eltern und Großeltern erst durchdringen mußten, war das Thema deshalb zu schwierig. Durften ausgerechnet die Kinder und Enkel der Nazitäter über die Verbrechen von Opfern ihrer Vorfahren sprechen? Und wenn ja, wie sollten sie es tun?

Den Reaktionen auf das „Schwarzbuch des Kommunismus“ merkt man dies noch an. Ohne „Seitenblicke auf den Nationalsozialismus“ (Koenen) kann anscheinend in der Bundesrepublik über Verbrechen von Kommunisten nicht gesprochen werden.

Den Autoren des von Wolfgang Wippermann herausgegebenen Sammelbandes „Roter Holocaust“? geht es um die kommunistischen Verbrechen nur am Rande. Hier werden statt dessen diejenigen „entlarvt“, die sich um ihre Rekonstruktion bemühen. Zwar verhandeln 17 deutsche und französische Autoren das „Schwarzbuch“, aber lediglich sechs Beiträge beschäftigen sich mit seinen einzelnen Länderberichten. Die große Masse der Aufsätze polemisiert gegen die 68er und deren Reaktion auf den Untergang kommunistischer Regime 1989/90.

Hermann Gremliza formuliert es ganz plump: Die deutschen kommunismuskritischen 68er führten damals wie heute den Krieg ihrer Eltern gegen die Sowjetunion mit ideologischen Mitteln weiter. Wippermann holzt etwas differenzierter: Die linksradikalen 68er aus DDR und BRD hätten die Besonderheiten des Nationalsozialismus sowieso nie verstanden. Nach ihrer Läuterung verharmlosten sie ihn durch undifferenzierte Gleichsetzung mit dem Stalinismus. Diese Botschaft werde von der deutschen Täternation begeistert aufgenommen.

Fast alle Kritiker stürzen sich auf das Vorwort des „Schwarzbuchs“ von Stéphan Courtois. Der hat zwar unter Hinweis auf die Kriterien des Nürnberger Militärtribunals eine große Ähnlichkeit zwischen „Rassengenozid“ und „Klassengenozid“ behauptet, aber im Unterschied zu Ernst Nolte eine kausale Beziehung zwischen dem Archipel Gulag und Auschwitz ausdrücklich zurückgewiesen.

Eben solche Verlagerung der Verantwortung für die Shoah und den Vernichtungskrieg unterstellt ihm jedoch die Mehrzahl seiner Kritiker unter Hinweis auf seinen – in der Tat problematischen – Versuch, die Opfer kommunistischer und nationalsozialistischer Verbrechen zu quantifizieren und gegeneinander aufzurechnen. Wippermann behauptet gar, ob Courtois die Verharmlosung des Nationalsozialismus beabsichtigt habe oder nicht, sei „unerheblich“: „Die Botschaft selbst ist in Deutschland angekommen.“

Deutlicher kann kaum formuliert werden, worum es in diesem Sammelband nicht geht: eine fundierte Auseinandersetzung mit dem „Schwarzbuch“. Das Gros der Aufsätze ist schlicht demagogisch.

Interessant, kritisch und weiterführend dagegen ist das Buch „Utopie der Säuberung“ des langjährigen KBW-Funktionärs Gerd Koenen. Er hat die Abhandlung von Nikolas Werth im „Schwarzbuch“ über Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion zum Anlaß genommen, den Stand der Forschung und Erklärungsversuche zu den stalinistischen Massenverbrechen in einem Essay unter die Lupe zu nehmen.

Die Sowjetunion wie auch der Stalinismus entstanden aus der Krise der russischen Gesellschaft und dem Bürgerkrieg am Ende des Ersten Weltkriegs. Daß sich die terroristische Variante der leninistischen Politik durchsetzte, war keineswegs notwendig. Einmal an der Macht, verstetigte sich aber der Terror als Politikprinzip gegen die – oft nur angenommenen – Feinde des Staates, außerhalb, aber auch innerhalb der herrschenden Partei. Der Terror richtete sich gegen die ganze Gesellschaft.

Koenen lehnt aus diesem Grund die Bezeichnung „Genozid“ ab. Er verschweigt aber nicht, daß auch ganze Volksgruppen Opfer dieses Terrors wurden. Im Unterschied zur genozidalen Vernichtungspraxis konnte jedoch in der Sowjetunion Stalins jeder zum Feind gestempelt werden, der – so das Prinzip der „sozialen Prophylaxe“ – auch nur potentiell hätte ein Gegner werden können. Diesen Terror nennt Koenen „exterministisch“.

Der Terror war dabei keineswegs eine Funktion oder Begleiterscheinung der Industrialisierung. Dieser Behauptung von Kommunisten, aber auch von Teilen der westlichen Forschung widerspricht der Autor durch die ausführliche Nachzeichnung der ökonomisch und militärisch desaströsen Folgen der Gewaltanwendung. Der Terror und die Verbrechen waren vielmehr Resultat einer politischen Logik, eben der „Utopie der Säuberung“, deren Ursprünge der Autor eher in einer „politischen Religion“ totaler Gesellschaftsplanung und -kontrolle verortet denn im Marxismus.

In Koenens Abhandlung sind „Seitenblicke auf den Nationalsozialismus (...) nicht tabu. Im Gegenteil“ – so der Autor im Vorwort –, „sie werfen ein um so schärferes Licht auf das ganz Einzigartige und Eigentümliche dese bolschewistischen Projekts.“ War der Nationalsozialismus in allererster Linie ein Projekt der Eroberung fremden „Lebensraums“ und der vollständigen Neubegründung eines riesigen kontinentalen Rasseimperiums, dessen „gesunder“ Kern, die „Volksgemeinschaft“ – im Unterschied zu den Juden, Roma, Sinti und den Objekten militärischer Aggression – vom Terror weitgehend verschont blieb, so zielte der Bolschewismus auf die Errichtung eines Großstaates völlig neuen Typs, dessen vorgefundenes „Menschen- und Gesellschaftsmaterial“ einer radikalen Säuberung und Umgestaltung unterzogen wurde. Koenen zeigt somit, daß die nationalsozialistischen und stalinistischen Megaverbrechen nur als „zweierlei Singularität“ sinnvoll beurteilt werden können. Moralisch macht ihre analytisch-differenzierte Beschreibung für Koenen freilich keinen Unterschied: „Wer die Vernichtung einer bestimmten Kategorie von Menschen – etwa der ,Kulaken‘ oder anderer ,Volksfeinde‘ der Sowjetunion – für historisch verständlicher oder sogar begründeter erklären wollte als die einer anderen Kategorie von Menschen – etwa der europäischen Juden –, landet bei einer ziemlich zynischen Argumentationsweise.“

Koenen verdeutlicht darüber hinaus, daß die Diskussion in der Bundesrepublik über die kommunistischen Verbrechen keinesfalls von der Verantwortung für den Nationalsozialismus ablenkt, sondern eine oft übersehene Dimension erst sichtbar werden läßt. Erst durch den Überfall der Nationalsozialisten auf die Sowjetunion erhielt das stalinistische Regime eine innere und später auch äußere „antifaschistische“ Legitimation. Terror und Willkür des fanatischen Regimes konnten seither als gerechtfertigter Kampf gegen „Verräter“ und „Kollaborateure“ dargestellt werden. So ist es nicht verkehrt, von einer indirekten deutschen Mitverantwortung für die stalinistischen Massenverbrechen und die sowjetische Hegemonie in Osteuropa nach 1945 auszugehen. Die differenzierte Auseinandersetzung mit ihnen führt mithin nicht zur Relativierung, sondern zu intensiverer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Im Unterschied zur Anti- „Schwarzbuch“-Polemik von Wippermann („Roter Holocaust“?) liegt mit Gerd Koenens „Utopie der Säuberung“ eine sehr kenntnisreiche Erweiterung und zum Teil Kritik eines Teils des „Schwarzbuchs“ vor. Es ist analytisch sehr hilfreich und außerdem verständlich geschrieben. Die Lektüre verdeutlicht überdies: Die Forschung über kommunistische Verbrechen steht am Anfang.

Jens Mecklenburg, Wolfgang Wippermann (Hg.): „,Roter Holocaust‘? – Kritik des Schwarzbuchs des Kommunismus“. Hamburg 1998, Konkret Literatur Verlag, 294 Seiten, 39 DM

Gerd Koenen: „Utopie der Säuberung – Was war der Kommunismus?“. Berlin 1998, Alexander Fest Verlag, 452 Seiten, 44 DM

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