piwik no script img

Wassersuppe und Revolution im Reichstag

■ Vor achtzig Jahren riefen Scheidemann und Liebknecht gleich zwei deutsche Republiken aus

Der Reichstag glich in den Morgenstunden des 9. November 1918 einem großen Heerlager. Arbeiter und Soldaten gingen ein und aus. Einen Tag zuvor war in Bayern die Republik ausgerufen worden. Gegen 14 Uhr rief Philipp Scheidemann von einem Fenster in Richtung Brandenburger Tor die „Deutsche Republik“ aus. Die Revolution war in Berlin, wie bereits am 18. März 1848, an einem Samstag ausgebrochen.

Bereits gegen 13 Uhr hatten Flugblätter eines Arbeiter-und- Soldaten-Rates kursiert, in denen es hieß, die „soziale Republik“ sei gegründet worden. Urheber waren einige sozialdemokratische Führer, die im Vorwärts-Gebäude an der Lindenstraße auf eigene Faust handelten. Denn zu diesem Zeitpunkt verhandelte gerade die Parteispitze unter Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Braun im Reichskanzlerpalais über die Ernennung Eberts zum Reichskanzler. Die Verhandlungen endeten damit, daß der letzte vom Kaiser ernannte Kanzler, Prinz Max von Baden, obwohl gar nicht dazu befugt, Ebert die Geschäfte übertrug.

In den Reichstag zurückgekehrt, löffelte Scheidemann gegen 14 Uhr an seiner dünnen Wassersuppe, als er von Arbeitern und Soldaten gedrängt wurde, nach draußen zu kommen und zu den mehreren tausend Leuten dort zu sprechen. Um die Entwicklung in geordneten Bahnen zu halten, sah sich Scheidemann gezwungen, in einer kurzen Rede das Alte und Morsche für zusammengebrochen zu erklären und die „Deutsche Republik“ auszurufen.

Als Ebert dies kurze Zeit später erfuhr, bebte er vor Zorn und machte Scheidemann heftige Vorwürfe: „Du hast kein Recht, die Republik auszurufen.“ Nach Eberts Meinung sollte erst eine verfassunggebende Versammlung einberufen werden.

Scheidemann war aber mit der Ausrufung der „Deutschen Republik“ Karl Liebknecht zuvorgekommen, der gegen 16 Uhr vor seinen Anhängern am Stadtschloß die „freie sozialistische Republik Deutschland“ ausrief. Die alte kaiserliche Verfassungsordnung war zusammengebrochen. Am Morgen gab es noch ein Kaiserreich, jetzt existierten gleich zwei Republiken in Deutschland.

Bereits vom Nachmittag des 9. November an verhandelten Mehrheitssozialdemokraten um Ebert und Scheidemann mit der linken USPD über die Bildung einer Regierung. Abends gegen 22 Uhr beschlossen die Berliner Arbeiter- und-Soldaten-Räte für den kommenden Tag die Abhaltung von Rätewahlen. Noch am Nachmittag sollten die gewählten Räte zu einer Vollversammlung zusammenkommen. Jürgen Karwelat

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen