: Heimatimitationen
Zwischen U-Bahnschächten und Fußgängerzone: Angela Guerreiro betreibt mit „Be nice or leave. Thank you.“ keine getanzte Reproduktion des Obdachlosen-Elends ■ Von Christiane Kühl
ie Welt ist rund, der Kaiser tot, und trotzdem gibt es oben und unten. In der Klassengesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist das eins zu eins ablesbar: Manche jetten durch die Lüfte, andere leben in U-Bahnschächten. Mobilität, eines der Lieblingswörter dieses nervösen Jahrhunderts, hätte längst in zwei Bedeutungen zerfallen müssen. Weil es einen Unterschied macht, ob ich als Globetrotter zwischen den Kontinenten beweglich bin oder als Obdachloser zwischen der Fußgängerzone und dem Bahnhofsvorplatz ständig in Bewegung sein muß.
Be nice or leave. Thank you heißt die jüngste Choreographie Angela Guerreiros, der Erfahrungen mit Gemeinschaften von Wohnungslosen als Ausgangsmaterial diente. Sechs Monate hat die Choreographin in Paris, Budapest, Berlin und Hamburg, wo sie seit vier Jahren lebt, Kontakte gesucht und Geschichten gefunden. Mit den Tänzern und Tänzerinnen Aloisio Avaz, Fiona Gordon, Cristina Moura und Marc Rees hat sie ihre Wahrnehmung dieser Situationen formal abstrahiert auf die Bühne gebracht. Reproduktion des Elends war nicht ihr Anliegen.
Das Bühnenbild von Claudia Rüll zeigt auf einer großen Leinwand frontal ein startendes Flugzeug. Darunter liegen verschnürte Kleiderstapel. In der Stille der Anfangssequenz bewegen sich die Tänzer kaum; wenn doch, dann langsam und immer dicht an der Erde. Vier einzelne sind sie, die den harten Boden, aber keinen Raum teilen. Verloren brabbeln sie vor sich hin und erfinden ihre Welt mit dem einzigen, was ihnen bleibt: dem eigenen Körper. Sein Agieren beweist das Da-sein, je frenetischer der Ausbruch, desto sicherer scheint die Existenz.
Pflaster leuchten hier als Insignien der Verletztheit, Fundsachen dienen zur Improvisation eines Zuhauses, das vor allem durch Ordnung definiert zu sein scheint. Das fein säuberliche Auslegen der spärlichen Habseligkeiten erscheint wie eine akribische, verzweifelte Heimatimitation. Selbstverständlich gleichen die Tänzer und Tänzerinnen nicht Obdachlosen. Ihr hippes Out-Fit, die trainierten Körper, vor allem aber das Selbstbewußtsein in ihren Gesichtern schließt eine Verwechslung aus. Die kurzen Sequenzen scheinbar selbstverlorener Bewegungen, plötzlicher Hyperaktivität, versuchter Annäherung, momentanen synchronen Dahingleitens und aggressiver Entzweiung sind keine eindeutige Spiegelung von Wohnungslosigkeit.
Die Produktion entwickelt ihre Intensität über die Darstellung der Folgen von gesellschaftlichem Ausschluß: Ohne Einbindung in eine Gemeinschaft wird das, was man sonst liebevoll Macken nennt, zum unverständlichen Ausdruck, der die Separation zur galoppierenden Einbahnstraße macht.
bis 21. November (außer Mo) 20 Uhr, Kampnagel
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