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Im Assoziationssturm zum Affekt?

■ Überraschende Wende im Dev Sol-Prozeß: Der „falsche“ Angeklagte gesteht

Im sogenannten „Dev Sol“-Prozeß vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht gerät die Bundesanwaltschaft (BAW) durch ein überraschendes Geständnis zunehmend ins Schwimmen. Die Anklage geht davon aus, daß der „Dev Sol Göcler“-Anhänger (Yagan-Gruppe) Armagan U. (18) bei einer Schießerei am 29. Januar 1998 in der Bahrenfelder Straße in Ottensen „drei bis vier Schüsse“ auf den vermeintlichen Kontrahenten der Dev Sol-Abspaltung „DHKP-C“ (Karatas-Gruppe) Hidir M. (32) abgegeben habe. Nun aber erklärte der Mitangeklagte Taylan T. (20), „aus Angst völlig unkontrolliert“ geschossen zu haben: „Es ist mit mir durchgegangen.“

Den beiden und dem dritten Angeklagten Abbas Y. (31) wird Mordversuch und „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ (Paragraph 129a) vorgeworfen. Das überraschende Geständnis sorgte nicht nur für Irritationen bei den Bundesanwälten, sondern für einen völlig neuen Prozeßverlauf.

Taylan T. war am 13. Mai 1996 von Karatas-Leuten vor dem türkischen Volkshaus am Neuen Kamp im Schanzenviertel mit Knüppeln niedergeschlagen worden. Er lag mehrere Tage mit einem Schädelbruch im Koma. Seit dem Vorfall leidet er unter Angstzuständen. Das bestätigten auch seine Eltern vor Gericht. „Sein Verhalten war nicht mehr normal.“ Zweimal wechselte die Familie aus Furcht vor neuen Überfällen die Wohnung. „Er zitterte und stotterte“, so die Mutter. Er habe monatelang die Wohnung nicht verlassen. „Oft klagte er über Kopfschmerzen und hatte Krämpfe im Bein.“

Als Taylan T. und seine Yagan-Freunde, zu denen er Ende 1997 wieder den Kontakt aufgenommen hatte, beim Spendensammeln auf zwei Widersacher vom Karatas-Flügel stießen, sei es zu einem Streit gekommen. Da sei „die Situation von damals vor meinen Augen“ abgelaufen, so der Angeklagte. Da Hadir M. nach einer Waffe gegriffen habe, sei er durchgedreht: „Ich habe einfach meine Waffe gezogen und ständig geschossen. Einfach nur geschossen. Ich wollte nicht sterben.“

Daß er Mitglied eines „Killerkommandos“ gewesen sei, wies er zurück: „Die Behauptung, wir wären ein bewaffnetes Kommando, um Karatas-Anhänger zu erschießen, ist falsch.“ Keiner seiner Freunde hätte gewußt, daß er überhaupt eine Waffe habe.

Der psychiatrische Gutachter Prof. Dr. Hans-Jürgen Horn räumt Taylan T. eine „verminderte Schuldfähigkeit“ ein. „Ich kann nicht ausschließen, daß die Steuerungsfähigkeit vermindert gewesen sein könnte“, erklärt der Gutachter. Er habe seit dem Volkshaus-Vorfall unter einem seltenen „posttraumatischen Belastungssyndrom“ gelitten. Wenn er durch eine „unvorbereitete Situation mit den alten Ereignissen konfrontiert“ worden sei, so Horn, könne dies einen „flashback“ oder „Assoziati-onssturm“ ausgelöst haben, der zur „Affekthandlung“ geführt habe.

Die Verteidigung fordert die BAW auf, die „Tatvorwürfe ohne Substanz“, nämlich den Mordversuch und 129a-Vorwurf, endlich fallenzulassen. Der Prozeß wird fortgesetzt. Kai von Appen

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